Teil 7: Syrien

 
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Im Reiche des Löwen - Syrien

  
Die syrischen Einreiseformalitäten laufen schnell und reibungslos ab. Eine Autodurchsuchung bleibt uns erspart, und es fallen nur 60 Mark an Gebühren und Versicherung an. Wir fahren in Richtung Osten in das südsyrische Basaltplateau, den "Hauran", denn diese Strecke verspricht mehr Abwechslung als die direkte Schnellstraße nach Damaskus. In diesem Gebiet um den Höhenzug Djebel ad-Druz leben vorwiegend Drusen. Diese Sekte hat sich in ihrem Glauben weit von den religiösen Inhalten des orthodoxen Islam entfernt. Kein Außenstehender kann Druse werden, auch Ehen sind nur untereinander erlaubt. Der Qur'an hat für sie eine untergeordnete Bedeutung, da ihre Glaubensinhalte in sieben handgeschriebenen heiligen Büchern zusammengefaßt sind. Diese sind geheim und dürfen nur vom "Kreis der Wissenden", dem "Uqqal", gelesen werden. Nur jeder siebte Druse kann Mitglied des Uqqal werden, er muß mindestens 40 Jahre alt sein und darf nicht rauchen, Alkohol trinken oder fluchen. Als Erkennungszeichen tragen diese Wissenden einen großen weißen Turban und lange Bärte.
Drusen fasten nicht, haben keine festen Gebetszeiten und pilgern nicht nach Mekka. Ihre streng geheime Religion beinhaltet Vorstellungen der Seelenwanderung und der Wiedergeburt bis zum Weltuntergang. Sie leben in Einehe und ihre Gesellschaft ist in Stämmen streng organisiert. Als Syrien 1920 französisches Mandatsgebiet wurde, hatten die Drusen drei Jahre lang sogar einen eigenen Staat mit der Hauptstadt Suweida. Von den insgesamt 400.000 Drusen leben 250.000 im Hauran, die anderen in Israel und im Südlibanon. Sie bilden damit einen Anteil von zwei Prozent der insgesamt 13 Millionen Syrer. "Nur" 85 Prozent der syrischen Bevölkerung sind Muslime, weitere zehn Prozent Christen, darunter auch Armenier und viele Palästinenser. Syrien ist eines der wenigen arabischen Länder, in denen auch Christen und andere Nicht-Muslime im Parlament vertreten sind.
Der Hauran ist übersät mit antiken Resten aus nabatäischer und römischer Zeit. Die Stadt Bosra, 50 Kilometer hinter der Grenze, war ein wichtiger Stützpunkt der Nabatäer und später Hauptstadt der römischen Provinz "Arabia". Wir besichtigen die im siebten Jahrhundert von den Arabern erbaute Zitadelle und das darin gelegene römische Theater. Das schwarze Basaltgestein der Region ist hier seit jeher der meistverwendete Baustoff. Er verleiht der Zitadelle und dem Theater - eines der eindrucksvollsten und besterhaltenen, die wir je gesehen haben - einen etwas düsteren Charakter. Die Anlage wurde erst 1947 vollständig freigelegt und in den Wehrgängen ist heute unter anderem eine Jugendherberge eingerichtet. Leider regnet es, so daß unsere Besichtigungslaune nicht allzu lange anhält.
In Suweida fragen wir fast jeden, der bei dem Mistwetter auf der Straße ist, nach einem Hotel. Die widersprüchlichen Aussagen lassen aber den Schluß zu, daß es hier keines gibt. Also raus in die einsame Natur, auch wenn es inzwischen dunkel ist. Am Ortsausgang dann die Rettung: ein Parkplatz vor einem großen hotelähnlichen Gebäude. "Shooting Club" steht am Eingang - egal, ab in die hinterste Ecke und schlafen. Aber so schnell wird daraus nichts, denn da klopft es an unsere Seitentür. Es ist unser bester, treuster und einsamster Freund - der Nachtwächter. Und wie immer mit einer Einladung zum Tee. Wir staunen, als wir das Gebäude betreten. Es ist ein ehemaliges Nobelhotel, das noch wie zu alten Zeiten eingerichtet ist. Beim Rundgang finden wir einen Rezeptionstisch mit Schlüsseln am Brett, einen Kronleuchter in der Mitte des Eßsaales, Stapel von Tischdecken auf den Tischen und sogar Pflanzenkübel samt Inhalt. Das einzige was fehlt, seien die Matratzen, Wasser und Strom, erklärt uns der Mann. Er arbeite hier als Wächter, um auf die vielen noch vorhandenen Dinge aufzupassen.

Freitag, 29.01.93
Nach einem gemeinsamen Frühstück fahren wir weiter durch die kleinen Dörfer des Drusengebirges. "Gebirge" ist ein etwas übertriebener Name für dieses 400 bis 800 Meter hohe Plateau mit kleinen Hügeln. Die gar nicht arabisch wirkenden Orte mit ihren eng gebauten Häusern sind ungewohnt menschenleer. In einem kleinen Lebensmittelladen kaufen wir zwei Flaschen "Vin ar-rayyan", 13-prozentigen Rosinenwein, der fast wie Sherry schmeckt. Für diejenigen Drusen, die nicht dem Uqqal angehören, hat das Alkoholverbot des Qur'an keine Bedeutung.
Nach etwa hundert Kilometern erreichen wir Damaskus. Die 1,4 Millionenstadt liegt östlich des Küstengebirges und westlich der trockenen Wüstengebiete inmitten einer 30 000 Hektar großen Bewässerungsoase, der "Ghouta". Ihr Lebensquell ist der Fluß Barada mit seinen sieben Seitenarmen und mehr als einhundert Kanälen. Er wird von den Regenfällen im Gebirge gespeist und ist einer der wenigen syrischen Flüsse, die ständig Wasser führen. Mit ihrem üppigen Bewuchs und den Schatten spendenden Palmen erschien die Oase schon vor Jahrhunderten Beduinen und Karawanen nach ihrem langen Marsch durch die Wüsten als das Paradies auf Erden. Sie war ein wichtiger Knotenpunkt im weitgespannten Netz der großen Karawanenstraßen von China (Seidenstraße), Indien und Südarabien (Weihrauchstraße) in die Länder des Abendlandes. Nicht zuletzt wegen des fruchtbaren Bodens ist Damaskus die älteste kontinuierlich besiedelte Stadt der Welt - nur Jericho ist noch älter, war aber nicht ununterbrochen bewohnt. Als Stadt existiert Damaskus seit dem vierten vorchristlichen Jahrtausend, aber schon über 10 000 Jahre sollen hier Menschen siedeln.
Im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung war Damaskus aramäisch, später assyrisch, babylonisch, persisch, griechisch, römisch und byzantinisch. Ab 635 wurde die Stadtgeschichte islamisch geprägt. Ihre politische Glanzzeit war die unter der Herrschaft der Omayyaden, die von 657 bis 750 Damaskus zur Hauptstadt ihres riesigen Reiches machten. Es folgten die Abbasiden 1155 bis 1250, die Mameluken ab 1260 und die Osmanen ab 1570, allerdings hatten diese Dynastien ihre Metropolen anderswo. Nach den arabischen Aufständen unter Lawrence durfte Damaskus sich nach langer Fremdherrschaft 1918 sogar "Hauptstadt des Arabischen Königreiches" nennen - wenn auch nur für zwei Jahre bis die Franzosen die Mandatsherrschaft übernahmen. Seit 1946 ist sie Hauptstadt des unabhängigen Syrien.
Ihre Lage im Grenzbereich zwischen Morgen- und Abendland sowie im Spannungsfeld rivalisierender Großmächte führte immer wieder zu Kriegen, Zerstörungen und Plünderungen. Am verheerendsten wüteten die Kreuzritter 1099 und die Mongolen um 1300. Dennoch fehlte den Bewohnern nie der Mut und die Kraft für einen glanzvollen Neubeginn. Ein andalusischer Reisender schrieb 1184: "Wenn es ein Paradies auf Erden gibt, dann ist das ohne Zweifel Damaskus, und wenn es im Himmel ist, dann ist Damaskus das irdische Gegenstück."
Von der poetischen Schönheit der "Perle des Orient, Blume des Paradieses, Auge der Wüste" sehen wir auf unserer ersten Stadtrundfahrt nicht viel. Sie steht unter dem Motto "Schlafplatzsuche", denn der Campingplatz liegt uns zu weit außerhalb. Also fahren wir kreuz und quer durch die Neustadt mit ihren teuren Geschäften, Banken, Restaurants, Delikatessengeschäften, Salons de Beauté, Anwalts- und Arztpraxen, luxuriösen Appartementanlagen, Verwaltungs- und Botschaftsgebäuden. Nur die vielen Grünanlagen sind ein angenehmer Kontrast zu den Betonbauten. Für die nächsten vier Tage finden wir einen Übernachtungsplatz in einem Innenhof, der von Geschäften und einer kleinen Polizeistation umrandet wird. Er liegt nur etwa einen Kilometer nordöstlich der Altstadt. Sie hat noch immer das, wovon Poeten schon seit Jahrhunderten schwärmen: märchenhafte Schönheit und ein orientalisches Flair aus 1001 Nacht.
Beim Bummel innerhalb ihrer Stadtmauern fühlen wir uns stellenweise um Jahrhunderte zurückversetzt. Nur die Autos, die durch die größeren Gassen rasen und der moderne Kitsch, der im Souq verkauft wird, holen uns ins zwanzigste Jahrhundert zurück. Die Souqs erstrecken sich südlich der Zitadelle, die in Damaskus nicht auf einer Anhöhe, sondern ebenerdig in der nordwestlichen Ecke der Medina steht. Leider ist diese gewaltige Befestigungsanlage aus der Zeit der Abbasiden nicht zu besichtigen, da sie militärisch genutzt wird. Hinter der Zitadelle beginnt der von Sultan Hamid gegründete Souqgang "Hamidiye". Er ist vollständig mit einem Rundbogendach aus Wellblech überspannt, und unsere Augen brauchen einige Zeit, bis sie sich an das Dämmerlicht gewöhnt haben. Auf den ersten Metern lauern Nepper, Schlepper und Tourifänger auf ihre Beute, dann wird es ruhiger. Dieser Souq ist die Nobeleinkaufs- und Flaniergasse sowie beliebter Treffpunkt der Mittel- und Oberschicht am Abend. Die vornehmen Läden sind im westlich-europäischem Stil aufgemacht. Grelle Neonreklame und bunte Firmenwerbung in englischer und französischer Sprache machen auf die Ware aufmerksam. Meist ist es schicke und modische Qualitätskleidung für reiche Damen, deren Modebewußtsein sehr groß ist. Daneben gibt es eine Menge Souvenirs: Beduinendolche, Kamelpeitschen, Kupfer- und Silbereinlegearbeiten, Mosaikschächtelchen, Stickereien und Brokatstoffe. Nichts von diesen Waren wird im Hamidiye Souq hergestellt - er ist eine reine Verkaufsstraße.
Südöstlich grenzt ein Verkaufsgebiet mit zahlreichen verwinkelten Seitengassen an den Nobelsouq. Meistens sind es Sackgassen, denn so ließen sie sich in Kriegen besser verteidigen. Hier ist das Warenangebot eher traditionell, daher kaufen hauptsächlich einfache Städter und die angereiste ländliche Bevölkerung in diesen Läden. Sie sind wie üblich sauber nach Warengruppen getrennt: Stoffe, Wolle, Modeschmuck, Süßigkeiten, Geschenkpapier, Bettwäsche und Lebensmittel. Vor einem Stand mit Damenunterwäsche stehen zwei schwarz verschleierte Frauen und begutachten kritisch das Sortiment, das schon an die Kategorie "Reizwäsche" grenzt. Die eine hält prüfend einen mit Spitzen verzierten, sehr knappen Slip gegen das spärliche Sonnenlicht, während ihre Begleiterin sich einen zartrosa BH über ihrem weiten Stoffumhang zwängt. Für uns ist es schon ein merkwürdiger Anblick, wie sie sich völlig selbstbewußt von Paßform und Sitz überzeugen. Im Gedränge des Souqs nimmt jedoch kaum jemand Notiz von ihnen.
Uns haben es besonders die wohlriechenden Gewürzgeschäfte angetan. Kardamom, Ingwer, Safran, Rosenblätter, Weihrauch, Blütentee und die für ihre Zartheit berühmten damaszener Aprikosen werden in riesigen Säcken angeboten. In manchen Läden gibt es ganze Wände aus kleinen Holzschubladen, in denen weitere Geheimnisse des Orients schlummern. Die vielen "Khane", Karawansereien aus der Osmanenzeit, sind im quirligen Souq kaum zu erkennen. Früher dienten sie den reisenden Kaufleuten als Unterkunft und Umschlag- oder Lagerplatz für ihre Waren. In einigen werden auch heute noch Waren zwischengelagert und an die umliegenden Geschäfte im Souq weiterverkauft. Wir besichtigen den Khan Assad Pascha, dessen Räume um einen Innenhof auf zwei Etagen angeordnet sind. Eine Galerie führt um das obere Geschoß, in das die Waren mit einem mächtigen hölzernen Seilzug befördert werden. Das Dach über dem Hof besteht aus acht kleinen Kuppeln, an deren Rand halbrunde Fenster die ersten Sonnenstrahlen nach dem Regen der letzten Tage hereinscheinen lassen.
Am Ende der Hamidiye Souqgasse treten wir bei der Omayyadenmoschee wieder an das grelle Tageslicht. Sie wurde ab 705 auf dem Areal eines römischen Jupitertempels und einer byzantinischen Kathedrale, die um 635 als Mittelpunkt der Welt galt, erbaut. Zum Bau der Moschee hatten die Omayyaden die Umfassungsmauern samt Ecktürmen des Tempels beibehalten, und sie verwendeten auch das antike Material der verfallenen Bauwerke weiter. Dies geschah nicht alleine, um Baumaterial zu sparen, sondern es deutet auf ihre Anerkennung der Heiligtümer anderer Religionen hin. In den Jahren 1069, 1401 und 1893 zerstörten Brände das Gebetshaus, es wurde aber jedesmal wieder im alten Glanz aufgebaut. Drei Minarette ragen in den Himmel. Das südöstliche, das "Isaa-Minarett" (Jesusminarett), zeugt von der Verehrung der Muslime von Jesus als Prophet.
Die Omayyadenmoschee darf gegen Eintrittsgeld besichtigt werden. Die Schuhe müssen, wie in jeder Moschee, vor dem Eingangsportal ausgezogen werden. Nimmt man sie mit ins Innere, sollte man sie mit aneinandergelegten Sohlen tragen. Im Gebetsaal dürfen sie nicht auf dem Teppich abgestellt werden, sondern gehören auf kleine Schuhregale, die an jeder Säule stehen. Die Kleidung in einer Moschee sollte nicht zu offen sein, auch nicht bei Männern. Frauen sollten ihre Haare mit einem Kopftuch bedecken. Hier bekommt Kirstin sogar trotz ihres Tuches und der "züchtigen" Kleidung einen langen schwarzen Kapuzenmantel umgehängt. Nach all dem Trubel in den Souqs fühlen wir uns hier wie in einer Oase der Ruhe. Wir gehen durch den von zweigeschossigen Arkaden umgebenen Innenhof, setzen uns unter eine Säule und genießen die Stille und die wärmenden Sonnenstrahlen.
Drei alte Männer, die in ihre Qur'anlesung versunken sind, sitzen an einer Säule neben uns. Sie murmeln leise ihre Texte vor sich hin und scheinen uns nicht zu bemerken. Mit den Fingern drehen sie ihre "Sibahs", Gebetsketten mit 33 Perlen, die die 99 Namen Allahs symbolisieren. Im Zentrum des Hofes steht ein Brunnen, in der westlichen Ecke ein von acht Säulen getragenes, kuppelförmiges und mit Goldfarbe und Malereien reich verziertes "Schatzhaus". In ihm war einst der Staatsschatz der Omayyaden verborgen. Die Wände und Eingangsfassaden des Hofes und des Schatzhauses sind mit Fresken und Mosaiken geschmückt. Sie zeigen auf einem golden glänzendem Hintergrund Landschaften mit Bäumen, Büschen, Flüssen und Gebäuden. In den Landschaften sind keine Menschen abgebildet, denn die strenge Interpretation des Qur'an verbietet die Abbildung des menschlichen Körpers. Aus dieser Einschränkung der Ausdrucksmöglichkeiten hat sich eine vielfältige Ornamentik als Wesensmerkmal der islamischen Kunst entwickelt.
Auch der Gebetssaal, eine 136 Meter lange mit Teppichen ausgelegte Säulenhalle, darf außerhalb der Gebetszeiten von Nicht-Muslimen betreten werden. In der Mitte steht ein Schrein, in dem der Kopf von Johannes dem Täufer als Reliquie aufbewahrt wird. Auch er wird von den Muslimen verehrt. Am Schrein lehnt ein junger Mann, der einem Blinden aus dem Qur'an vorliest. Andere liegen auf dem Teppichboden und lesen Zeitung oder schlafen. Dazwischen laufen Kinder umher, während ihre Mütter auf dem Frauenpodest sitzen und ein Schwätzchen halten. Eine Moschee hat eine wichtige soziale Funktion: Sie ist ein Treffpunkt der Gläubigen zum täglichen Gespräch.
Daneben ist sie natürlich ein Platz zum Beten, Sammeln und Besinnen. Der arabische Begriff "masdjid", aus dem sich "Moschee" ableitet, bedeutet übersetzt "Ort der Niederwerfung", also Ort des Gebets. Die großen Moscheen wie die Omayyadenmoschee dienen in erster Linie dem Freitagsgebet. Die kleineren, die sich um die Ecke im Wohnviertel befinden, werden zum alltäglichen Gebet aufgesucht. Der Qur'an empfiehlt, das Gebet in der Moschee zu verrichten, denn in der Gemeinschaft der Gläubigen zählt es mehr. Es kann aber auch sonst an jedem Ort ausgeführt werden. Theoretisch sollte jeder Muslim fünfmal am Tag zu festgesetzten Zeiten beten: bei Sonnenaufgang, am Mittag, am Nachmittag, bei Sonnenuntergang und zwei Stunden später am Abend. Zu diesen Zeiten schallen die Rufe sämtlicher Muezzine von allen Minaretten - leider nie ganz synchron. Mittlerweile kennen wir den Text schon auswendig:
 

"Allahu akbar. Allahu akbar.
Ashhadu 'an la illaha illa Allah. 
Ashhadu 'an Muhammad rasul Allah. 
Haiya ala-s-salat! 
Haiya ala-l-falah! 
Allahu akbar. Allahu akbar. 
La illaha illa Allah. 
Gott ist größer. Gott ist größer.
Ich bezeuge, es gibt keinen Gott außer Gott.
Ich bezeuge, Muhammad ist der Gesandte Gottes.
Auf zum Gebet!
Auf zum Erfolg!
Gott ist größer. Gott ist größer.
Es gibt keinen Gott außer Gott."

Bei Morgendämmerung fügt der Muezzin passenderweise noch die Zeile "Das Gebet ist besser als der Schlaf" ein.
Jedem Gebet gehen rituelle Waschungen voraus. In fester Reihenfolge werden Hände, Mund, Gesicht, Unterarme, Stirn, Ohren und Füße gewaschen. Gebetet wird auf einem sauberen und rituell reinen Gebetsteppich in Richtung Mekka. In den Moscheen zeigt eine halbrunde Wandnische, der "Mihrab", diese Richtung an. Hier ist er mit kostbaren Einlegeornamenten und Elfenbein geschmückt. Der Vorbeter, der "Imam", hält am Freitag die Predigt. Imam kann grundsätzlich jeder werden, der den Qur'an gut kennt, da es im Islam keine Priester wie im Christentum gibt. Seinen Lohn erhält er vom Staat. Er spricht den Gebetstext und leitet die festgelegten Körperhaltungen der Gläubigen, darunter Verneigungen und Niederwerfungen vor Allah, an. Bei den Niederwerfungen soll die Stirn den Boden berühren. Gläubige, die es mit dem Gebetsritus besonders ernst nehmen, kann man an der kleinen Stelle auf ihrer Stirn erkennen, wo sich durch die Bodenberührungen eine Art Hornhaut gebildet hat. "Az-zabira", "die Rosine", wird sie auf Arabisch genannt. Nur wenn alle Teile des Gebetes richtig ausgeführt werden, ist es eine rituelle Handlung. Beim Besuch einer Moschee sollte man darauf achten, nicht unmittelbar vor einem Betenden herzulaufen. Sein Gebet wird dadurch ungültig, und er muß von vorne beginnen.
Im allgemeinen beten Männer und Frauen zu den Gebetszeiten in getrennten Bereichen oder in verschiedenen Räumen, zwischen diesen festen Zeiten aber auch nebeneinander. Beten sie gemeinsam, stehen die Frauen in den hinteren Reihen. Nicht aus Diskriminierung, sondern so soll verhindert werden, daß ein betender Mann durch einen Frauenpo vor ihm abgelenkt und auf "unreine" Gedanken gebracht wird.

Nördlich der Omayyadenmoschee besuchen wir ein kleines epigraphisches Museum, das in einer alten Medressa aus dem 15. Jahrhundert untergebracht ist. Es sind nur wenige alte Schriften und Kalligraphien ausgestellt, aber sie geben einen guten Einblick in die arabische Schriftkunst. Die Kalligraphie stellt seit der Abbasidenzeit im 10. Jahrhundert eine hochangesehene Kunstform dar. Der Perser Ibn Muqla legte zu dieser Zeit erstmals feste Regeln für die Proportionen der Schönschrift fest. Aus dem statischen Kufistil entwickelte er sechs weitere, geschwungenere Schriftstile. Somit ist die Kalligraphie nicht nur eine Kunst, sondern auch eine Wissenschaft, die strengen Regeln unterworfen ist. Geschrieben wird traditionell mit dem "Qalam", einem Schreibrohr. Die Technik, es aus einem Schilfrohr zu schnitzen, ist eine Kunst für sich. Es wird sogar in der 96. Sure, Vers drei bis fünf, des Qur'an erwähnt: "Dein höchst edelmütiger Herr (Allah) ist es ja, der den Menschen durch das Schreibrohr gelehrt hat, was er zuvor nicht wußte." Die Kalligraphie dient vor allem dazu, Allahs Worte in eine ansprechende und würdevolle Form zu bringen. Deshalb darf die Tinte auch niemals mit Alkohol verdünnt werden, denn es wäre ja Sünde, Qur'anverse mit verbotenem Alkohol zu schreiben. Besonders oft wird die Einleitungsformel der Qur'ansuren "Bismillah ar-rahman ar-rahim" kalligraphisch verschönert. Diese Worte sind die meistgebrauchte Segensformel der arabischen Sprache. Schon Muhammad hatte gesagt: "Wer schön Bismillah schreibt, der erhält unzählige Segnungen." Grund für die Kalligraphen, diese Formel über Jahrhunderte immer wieder in neuen kunstvollen Formen zu schreiben.
Kalligraphen hatten schon immer ein hohes Ansehen in der islamischen Welt. Viele wurden mit Ehrentiteln angeredet oder brachten es bis zum Ministeramt. Sie entwickelten neben der reinen Schönschrift auch die Kunst, Worte so zu schreiben, daß sie zugleich ein Bild darstellen. Man umging auf diese Weise geschickt das Abbildungsverbot des Qur'an, das vor allem in Persien und bei den Osmanen nicht so streng ausgelegt wurde. Daher stammen die meisten der Bilder-Kalligrahien von dort. Heute erlebt die Kalligraphie eine Renaissance: Im Iran z.B. gibt es momentan 25 000 Schüler und 2000 Mitglieder der "Gesellschaft für Kalligraphie". Die Rückbesinnung auf die islamische Kultur bringt auch einen Aufschwung für die Kunst der arabischen Schrift.

Die Gassen der Altstadt von Damaskus wirken wie ein verzaubertes Labyrinth, das immer neue Überraschungen hervorbringt. Medressen, Mausoleen, alte Bürgerhäuser, Kirchen, Synagogen und Moscheen wechseln sich mit ganz gewöhnlichen Wohnhäusern ab. Die Wohnviertel der Altstadt wirken einheitlich, sind aber von zahlreichen - für Außenstehende nicht sichtbaren - räumlichen und sozialen Grenzen durchschnitten. In muslimischen Ländern sind "Grenzen" anders definiert als in unserer Gesellschaft. Das arabische Wort für "Abgrenzung", "Tahdid", wird im übertragenen Sinn auch für die Selbstdarstellung einer Person benutzt. Die räumliche Herkunft ist ein wichtiger Schlüssel zur Charakterisierung der Persönlichkeit. Aus welchem Land jemand kommt, ob man ein "fellach", ein Landmensch, oder ein "madani", ein "Städter", ist und in welchem Wohnviertel man wohnt, sind wichtige Kriterien. Fragt man bei uns eher "Was machen Sie beruflich?" um den Status und die gesellschaftliche Stellung eines Fremden zu erfragen, so werden in arabischen Ländern aus dem ewigen "Where do you come from" die entsprechenden Rückschlüsse gezogen.
Räumlich gesehen unterscheiden sich die Wohngebiete grob nach Neu- oder Altstadt. In ihnen leben die Menschen getrennt nach Religion oder Herkunft. So wohnen im Nordosten der Altstadt vorwiegend Christen, im Südosten Juden. Eine weitere Unterteilung der traditionellen Viertel wird in einzelne Wohnblöcke oder Quartiere vorgenommen. Deren räumliche Grenzen sind oft nicht eindeutig zu definieren, da sie nicht besonders ausgestaltet sind. Es kann eine große Straße, eine Handwerkergasse, ein wichtiges Gebäude, eine Schule, eine Stadtmauer oder einfach eine Häuserzeile sein. Jedes Quartier besitzt als "Gemeinschaftseinrichtung" einen kleinen Markt oder Geschäfte, die den alltäglichen Bedarf decken, eine Moschee, einen öffentlichen Backofen und ein Bad. In diesen Wohnvierteln lebt jeder in und mit anderen Nachbarschaften, den "Haras". Die Grenzen der Hara sind soziale Grenzen. Sie sind nur für denjenigen zu sehen, der in, mit oder neben ihr lebt, beziehungsweise ihre Angehörigen kennt. Im nachbarschaftlichen Leben dominieren die Frauen. Die Männer sind tagsüber außer Haus, und sie mischen sich nur ungern in die Angelegenheiten der Frauen ein.
Beim Bummel durch die Gassen kann es einem leicht passieren, daß man zu tief und zu weit in die Haras eindringt. Man kann diese Gassen anhand ihrer Größe unterscheiden: Wo Autos fahren können, da kommen öfter "Harafremde" durch und werden geduldet. Private Gassen sind ruhiger, abgeschiedener als andere. Hier ragen die ersten Etagen gegenüberliegender Häuser so weit vor, daß sie sich fast berühren und kaum ein Sonnenstrahl hereinfallen kann. Fremde sind hier im Grunde nicht willkommen, auch nicht einheimische Fremde. Kinder machen durch Rufen auf sie aufmerksam, damit die Frauen sich rechtzeitig zurückziehen können. Auf Ausländer kommen die Kinder direkt zu, stellen sich regelrecht zu einer blockierenden Mauer auf und weisen den Weg hinaus. Ein Fremder darf sich in diesen Bereichen nicht zu neugierig verhalten. Er sollte durch laute Schritte, Räuspern oder Husten auf sein Kommen aufmerksam machen und Blicke in die Fenster oder gar durch die Türen vermeiden. Etwas Interessantes ist sowieso nicht zu entdecken, denn Vorhänge oder Mauern schützen vor fremden Blicken. Gegenüberliegende Hauseingänge sind versetzt angebracht, denn selbst innerhalb der Haras werden Einblicke nur von Verwandten geduldet.
Das Leben spielt sich nicht in den Gassen, sondern im Haus und im Innenhof ab. Männer- und Frauenbereiche sind im traditionellen Haushalt streng getrennt, entweder durch verschiedene Innenhöfe oder durch unterschiedliche Etagen. Der "Liwan" fehlt in keinem traditionellen Haus. Es ist eine zum Hof hin offene Halle, in der die Bewohner Schutz vor der Sonne finden.
Heute verlassen immer mehr der wohlhabenden Familien die Altstadt, um in die Neustadt zu ziehen. Nur die ärmeren bleiben zurück. Ihnen fällt die Loslösung von alten Bindungen schwer, und sie sehen westlichen Luxus und Lebensstil nicht als besonders erstrebenswert an. Das typische Miteinander von Arm und Reich gibt es nicht mehr in dem Maße wie früher - nur das räumliche Nebeneinander von prachtvollen und einfachen Wohnhäusern weist noch auf diese Zeiten hin.
Überall findet eine Umstrukturierung der alten Ordnung statt. Sozialer Aufstieg zeigt sich im Wechsel des Wohnviertels. Wer es sich leisten kann, der zieht in modernere, größere und repräsentativere Wohnungen oder Villen im westlichen Stil. Diese Häuser sind im Gegensatz zu den traditionellen und schmucklosen Gebäuden sehr darauf ausgerichtet, den eigenen Wohlstand zu zeigen. Uns fällt auf, daß die neueste Mode eine Fernsehantenne in Form eines Eiffelturmes ist. Jeder, der es sich leisten kann, hat das Pariser Wahrzeichen auf seinem Dach.
Ein Umzug aus einem traditionellen in ein westlich geprägtes Wohnhaus bringt für die Familie wesentliche Neuerungen mit sich: Zum einen fehlt die strenge Abgeschlossenheit nach außen, die das private Familienleben schützte, und zum anderen bedeutet es die Aufgabe des Wohnens in der Großfamilie. In den Neustadtvierteln spielt die Gemeinschaft der Nachbarn, die Hara, nicht mehr eine so große Rolle, denn das Leben ist anonymer. Das Ergebnis dieser Umstrukturierung ist eine Differenzierung der Bevölkerung nach ihrem Einkommen und sozialem Prestige, und nicht mehr nach Gemeinsamkeiten in Nationalität oder Religion.
Verwestlichung und Entislamisierung sind die Prozesse, die heute die Stadtentwicklung des orientalischen Damaskus am stärksten beeinflussen. Bis zur Islamisierung war das Baubild der Stadt abendländisch - heute orientiert es sich erneut am Westen. Das ständige Wechseln der Zugehörigkeit zu verschiedenen Kulturkreisen prägte die Entwicklung von Damaskus. Von antik über islamisch zu modern - diese drei Epochen sind heute noch immer lebendig. Die Vergangenheit ist noch Gegenwart, aber die Zukunft ist schon präsent.

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Dienstag, 02.02.93
Auf den 200 Kilometern bis zu unserem Tagesziel Hama wechseln sich Schnee- und Regenschauer ab. Mit Winterstiefeln und Regenschirm besichtigen wir den Ort, dessen Attraktion die bis zu 20 Meter hohen Holzwasserräder, die "Norias", sind. Einst schöpften sie mit ihren Holzgefäßen das Wasser des Orontes in höhergelegene Äquadukte, und diese leiteten es über ein Gefälle weiter auf die Felder am Stadtrand. Heute stehen die meisten der Räder still, oder sie drehen sich nur noch für die Touristen. Die Felder werden mit Pumpen bewässert.
Beim Rundgang durch die Stadt fährt oft ein Auto ausgerechnet neben uns mit Vollgas durch eine tiefe Pfütze und bespritzt uns mit Dreckwasser. Daran, daß die Syrer keinerlei Rücksicht auf Fußgänger nehmen, haben wir uns inzwischen gewöhnt. Aber anscheinend haben einige auch noch Spaß daran, Fußgänger zu schikanieren.
Nur wenige der Wagen sind jünger als 15 Jahre, das Durchschnittsalter liegt wahrscheinlich bei mindestens 30 Jahren. Oldtimerfreunde würden Syrien als ein Freiluftmuseum bezeichnen. Uralte Straßenkreuzer aus Amerika, alte Mercedes-, Citroën- und Peugeot-Karossen, schwarze Oldtimer mit Speichenrädern aus den Zeiten vor dem zweiten Weltkrieg, alle mit den schönsten Kühlerfiguren, Heckflossen und runden Kotflügeln sind hier alltägliche Fortbewegungsmittel.
Ein Taxifahrer zeigt uns stolz seinen Buik und erzählt, dieser sei über 40 Jahre alt. Schon sein Vater hatte ihn als Taxi genutzt. Er rechnet uns vor, wenn das Auto jeden Tag hundert Kilometer gefahren wurde, dann hätte es heute knapp eineinhalb Millionen Kilometer gelaufen. Aber er schätze den Tachostand auf gerade mal eine Million. Der Motor, inzwischen der fünfte, ist eine besonders gewagte Konstruktion Marke Resteverwertung. Unter der Motorhaube ist soviel Platz, daß fast jeder Pkw-Motor hineinpaßt und alle Möglichkeiten zum Improvisieren läßt. Selbst wenn die Syrer so unsanft mit ihren Autos umgehen - sie lieben und schmücken sie mit Federbüscheln in der Antennenhalterung oder Girlanden in der Windschutzscheibe. Aufkleber verdecken kleine Beulen und halten die rostigen Karossen zusammen. Obligatorisch ist ein Aufkleber mit dem arabischen Wort "wir", einem knallroten Herz und einem Porträt vom geliebten Präsident Assad.
Hafis al-Assad - "der Löwe" - ist seit 1971 Präsident des syrischen Staates, der nach der Verfassung von 1973 eine "Republik mit volksdemokratisch-sozialistischem Charakter" ist. Das Parlament wird als Volksrat alle vier Jahre gewählt, seit 1973 auch von Frauen. Dies täuscht aber nicht über die diktatorischen Mittel hinweg, mit denen Assad sein Land regiert. Als Oberbefehlshaber des Militärs liegt die Exekutivgewalt in seiner Hand. Er ist auch Vorsitzender der regierenden "Baath"-Partei, die 1963 durch einen Militärputsch an die Macht kam. Assad war dabei einer der führenden Offiziere. "Einheit, Freiheit und Sozialismus", "Wahda, Hurriya, Ishtirakiya" sind die Losungsworte der Baath-Bewegung. Diese "sozialistische Partei der Arabischen Wiedergeburt" setzt sich für einen föderativen Zusammenschluß der arabischen Staaten mit einer sozialistisch-islamischen Gesellschaftsordnung ein. Sie hat nichts mit der Baath-Partei im Nachbarland Irak oder den Ideologien von dessen Führer Saddam Hussein gemeinsam. Im Gegenteil: die beiden Staaten, ihre Präsidenten und ihre Baath-Parteien sind schon seit den Ursprüngen des Islam miteinander verfeindet. Die Rivalität zwischen den Abbasidenkalifen in ihrer Hauptstadt Bagdad und den Omayyadenkalifen in Damaskus sitzt tief.
Im Krieg um Kuwait nutzten die USA diese Feindschaft: Sie machten sich Assad, den Feind ihres Feindes, zum Freund. Assad war somit ein wichtiger Verbündeter gegen den Irak, obwohl das syrische Volk Saddams antiamerikanische "Heldentaten" bejubelte. Damit waren auch alle internationalen Terror- und Mordanschläge, die auf das Konto Assads gehen, vergessen. Die britische Regierung stellt Assad in diesem Zusammenhang in eine Reihe mit Gadhafi und Saddam Hussein, nur daß Assad raffinierter und unauffälliger sei. Wesentliche Machtfunktionen haben der syrische Geheimdienst, dessen Chefs als Großmeister der Intrige und der blutigen Komplotte gelten, und die Geheimpolizei, die "Muchabarat". Fast hinter jedem der zahlreichen Attentate auf Politiker oder Oppositionelle steckt eine der beiden Organisationen, ohne die die Baath-Partei nicht regieren könnte. Die führenden Posten sind alle von "Alawiten" besetzt, die mit etwa zwölf Prozent die zweitgrößte Religionsgemeinschaft nach den Sunniten in Syrien sind. Sie sind schiitische Muslime und verehren Muhammads Schwiegersohn Ali mehr als den Propheten selbst. Ähnlich wie die Drusen glauben sie an Seelenwanderung und daß Sünder als Tiere wiedergeboren werden. Auch Assad ist Alawit. So sind es Schiiten, die den eigentlich sunnitischen Staat Syrien kontrollieren.
Hier in Hama lehnten sich oppositionelle Muslim-Bruderschaften im April 1982 gegen den Löwen von Syrien auf. Assad reagierte prompt und schickte Luftwaffe, Fallschirmjäger, Artillerie und Panzerkolonnen. Die Stadt wurde bei diesem "Strafgericht von Hama" schwer zerstört und schätzungsweise 10 000 Einwohner wurden getötet. Die verantwortlichen Oppositionellen konnten ins Ausland fliehen.

Mittwoch, 03.02.1993
Aleppo ist unser letztes Ziel in Syrien. Die Stadt ist Damaskus sehr ähnlich: eine orientalische Großstadt mit rund 1,3 Millionen Einwohnern, einer schönen Altstadt, orientalischen Souqs, einer Zitadelle, einer Omayyadenmoschee, einem Nationalmuseum, Parks, reichlich Lärm und Dreck und wilden Autofahrern. Aber es gibt auch deutliche Unterschiede. Aleppo sieht man an, daß es keine Hauptstadt ist. Große Repräsentations- und Verwaltungsgebäude fehlen, es gibt weniger neue und exklusive Wohnviertel. Die Souqs bieten mehr für den alltäglichen Bedarf und kaum teure Modebekleidung an. Uns fällt auf, daß die Frauen hier traditioneller als in Damaskus gekleidet sind. Dagegen entdecken wir in mehreren Schreibwarenläden Postkarten mit "halbnackten" Frauen darauf. Es sind übrigens die einzigen Karten, die unsere Freunde zu Hause nie erreichen - vermutlich sind sie in der Sammlung irgendeines Postbeamten gelandet.
Dem Thema "Körperpflege" widmen wir uns im angeblich schönsten osmanischen Hammam der Stadt, dem "Hammam al-Labbadiye", das sich ein kleines Stück östlich des Eingangs zur Zitadelle befindet. Die Zeiten für Frauen und Männer sind fest aufgeteilt - Frauen tagsüber, Männer abends. Wir haben es nacheinander zu den entsprechenden Zeiten besucht und wollen hier unsere (höchst unterschiedlichen) Eindrücke schildern. Ich besuche es als erster am Abend:

Eigentlich sollte das Hammam ab 18 Uhr für Männer geöffnet sein, aber der Pförtner meint mit einem Augenzwinkern, die Frauen bräuchten mal wieder etwas länger. Nach einer halben Stunde in einem Café werde ich freundlich, aber auch mit einer angenehmen Selbstverständlichkeit begrüßt und bekomme ein Handtuch gereicht. Die große Eingangshalle ist Empfangs-, Umkleide- und Ruheraum zugleich. Ihr Fußboden besteht aus Marmor, der mit Ornamenten verziert ist, und in der Mitte plätschert ein kleiner Springbrunnen. An der Decke, die mit Stuck und Malerei dekoriert ist, hängt ein riesiger Kronleuchter. Der Raum wird von einer kleinen Empore umrahmt, auf der sich gepolsterte Sitzbänke mit Kissen befinden, darüber hängen riesige Spiegel. Ich ziehe mich um, suche mir aus den unzähligen Plastiklatschen ein passendes Paar, binde mir das Handtuch um die Hüfte und gehe in die Baderäume.
Im Dampf, der alles einnebelt, versuche ich mich zurechtzufinden: Es gibt mehrere kleinere Waschräume, die alle rund um einen großen Ruheraum angeordnet sind. In der Decke lassen kleine bunte Glasfenster das Tageslicht einfallen. Einige Männer liegen hier auf Holzbänken und dösen vor sich hin. Es ist sehr ruhig, kaum jemand redet, und auch ich werde kaum beachtet. Der ganze Badetrakt vermittelt den Eindruck eines Gewölbes. Die Durchgänge sind bogenförmig, und auch die Decke besteht aus mehreren Kuppeln. An den vier Seiten des Waschraumes ist jeweils ein kleines Becken, in das ständig frisches heißes Wasser aus einem Hahn fließt. Auf dem Boden sitzend, schütte ich mir einen Becher Wasser nach dem anderen über den Kopf und seife mich in Ruhe ein.
Ein Syrer kommt herein, schaut mich fragend an und nuschelt etwas von "Massage?" Ich nicke, und er fängt an, meinen ganzen Körper mit einem Handschuh abzuschrubben, der sich wie grobes Schmirgelpapier anfühlt. Meine Haut beginnt, sich bedenklich zu röten, aber er grinst nur und meint "no problem". Zumindest bilden sich heute keine Klümpchen aus Dreck und Hautresten, da ich eine ähnliche Prozedur bereits in Damaskus über mich ergehen ließ. Aber als der "Masseur" sich jetzt meinem Nachbarn zuwendet, der anscheinend schon länger nicht im Hammam war, bildet sich genau dieser graubraune Dreck. Er dreht sich zu mir um, lacht und meint: "You not, you clean!"
Mit heißem Wasser beruhige ich meine Haut etwas, die sich dafür herrlich weich anfühlt. Nach ein paar Minuten auf der Bank im Ruheraum gehe ich in die große Halle zurück. Sofort werden mir zwei große frische Handtücher entgegengehalten, und nachdem ich mich in diese eingewickelt habe, bekomme ich auch noch einen Tee. Eine ganze Weile lege ich mich auf die Bank, schlürfe den Tee und genieße die Ruhe. Nachdem ich bezahlt habe, mache ich mich gut erholt und mit bester Laune auf den Rückweg zum Bulli.

Kirstins Hammambesuch am nächsten Nachmittag ist leider eine Enttäuschung:
"Im Umkleideraum werde ich zunächst einfach ignoriert. Keiner bietet mir einen Tee oder eine Massage, geschweige denn ein Handtuch an. Ich bitte die Kassiererin mehrmals um eines, aber sie würdigt mich keines Blickes. Schließlich nehme ich mir selber eins und gehe damit in den Baderaum. Kinder nehmen Anlauf und schliddern mit Vollgas durch den glitschigen Gang. Ein kleiner Junge verliert das Gleichgewicht und kann sich gerade noch an meinem Arm festkrallen, bevor er dann doch unter lautem Gelächter der Umstehenden auf seinem Hintern landet. Bis zur Pubertät dürfen Jungen mit ihren Müttern ins Frauenhammam mitkommen. Diese Ausgelassenheit und das übermütige Kichern bilden einen Gegensatz zum zurückhaltenden Verhalten der jungen Frauen auf der Straße. Gekleidet sind fast alle mit knielangen Synthetikunterröcken mit Spaghettiträgern und Spitzenausschnitt, die überall im Souq für umgerechnet drei Mark verkauft werden. Auf mich wirken die dünnen Dinger nutzlos, denn wenn sie naß sind, werden sie äußerst durchsichtig. Manche tragen auch einen Badeanzug - hochgeschlossen im Stil der frühen 60er Jahre. Die älteren Frauen haben oft nur eine Unterhose oder ein nasses Handtuch an. Nur die Kinder und ein paar alte Frauen, die in ihrer Waschnische sitzen, sind nackt.
Aus allen Ecken schallt ein "Hello, hello, come in". Ich suche mir das am wenigsten bevölkerte Waschbecken heraus und hocke mich neben eine Frau mit ihren vier Kindern. Trotz seines wilden Protestgeschreies seift sie den Kleinsten ein. Eine Gruppe junger Mädchen stellt sich vor mich. Eine sagt was, alle lachen und tippeln schnell weg. Diese Form der Touri-Veralberung macht mir inzwischen nicht mehr viel aus. Draußen sind es aber junge Männer, die einen zum Narren halten wollen. Ich bin erstaunt, daß auch Frauen diesem Volkssport nachgehen, wenn sie dazu Gelegenheit haben. Es dauert nicht lange und ein Frage- und Antwortspiel beginnt. Runde eins durch die Frau neben mir, die inzwischen ihr zweites Kind abschrubbt: Woher ich komme? Ob ich Arabisch spreche? Wo ich Arabisch gelernt habe? An einer Universität - ob ich wirklich studiere? Ob ich aus Ost- oder Westdeutschland komme? Wie alt? Verheiratet? Was ist mein Mann denn von Beruf? Wie lange ich schon in Syrien bin - und an welchen Orten? Wohin als nächstes? Warum ich denn keinen Schmuck trage??? Zwischen den Fragen schüttet sie mir ganz nebenbei zweimal neues Schampoo auf den Kopf. Ihr Jüngster hat sich mit all seinem Schaum vor mich gesetzt und zupft an meinen Zehen.
Zwei weitere Frauen kommen kichernd herein, und obwohl ich mit dem Schaum in meinen Augen kämpfe, setzen auch sie zum Interview an. Runde zwei mit den gleichen Fragen in der selben Reihenfolge. Wie die meisten Frauen können auch sie kein Englisch, aber ich verstehe, was sie wissen wollen und beantworte alles so gut es geht auf Arabisch. Viele Gelegenheiten mit arabischen Frauen Kontakt aufzunehmen, gibt es ja sonst nicht. Ich hatte gehofft, im Hammam könnten wir uns besser kennenlernen, denn neugierig aufeinander sind beide Seiten. Aber leider kommt nie ein richtiges Gespräch zustande. Sie fragen mich aus, aber ein Gedanken- oder Meinungsaustausch ist das nicht. Zum Schluß fragen auch sie erstaunt und kichernd, warum ich denn keinen Schmuck trage. Das ist den Frauen sehr wichtig, und jemand ohne Goldschmuck ist in ihren Augen zu bedauern. Was kann das schon für ein Ehemann sein, der seiner Frau noch nicht einmal einige Schmuckstücke kaufen kann. Sein Reichtum bestimmt auch den Wert der "Morgengabe". Dies ist eine Art finanzielle Absicherung, die die Frau im Fall einer Scheidung für sich behalten darf. Sie ist bei der Hochzeit zu zahlen, was heutzutage oft in Form von Goldschmuck geschieht. Heute habe ich auch noch meinen "Ehering" im Bulli vergessen - klar, daß mir so keiner abnimmt, daß ich verheiratet bin. Unverheiratete Frauen im heiratsfähigen Alter werden nicht als allzu ehrbar angesehen. Wenn sie sich dann noch alleine in der Öffentlichkeit oder - schlimmer noch - im Ausland bewegen, dann ist das "aib", "schandhaft".
Ich habe schon oft Ablehnung von den Frauen gespürt, aber so schlimm wie in diesem Hammam war es noch nie. Bis jetzt habe ich mich ja noch nett ausfragen lassen, aber der arrogante Blick von Frau Nummer vier, die soeben diese Nische betritt, läßt nichts Gutes ahnen. Sie spult pampig einige Fragen ab, blickt mir triumphierend in die Augen und zischt "Bakshish!". Ich setze meinen ungläubigsten Blick auf, und sie wiederholt im Befehlston: "Bakshish!!" Zwei weitere Hände strecken sich mir fordernd entgegen. Ich kann meine Wut noch verbergen und frage ruhig "lesch?", "warum?" Breit grinsend antwortet eine "Flüs quayyis", "Geld sei gut" und setzt ein "Flüs Madame!" dran. Jetzt platzt mir der Kragen, und ich schimpfe laut auf Deutsch. Zum Abschied setze ich noch ein "inti mesch quayyessa", "Sie sind nicht gut", drauf und gehe.
Diese Situation ist die unfreundlichste und aufdringlichste der ganzen Reise. Daß sie von Frauen ausgeht, hätte ich nicht erwartet. Im Ruheraum ziehe ich wütend den Vorhang zu und will meine Ruhe haben. Aber als ich ihn wieder öffne, wartet die "Bettlerin" vor der Treppe. Sie betupft hoch erhobenen Hauptes ihr Dekolleté mit einem Duftwässerchen und grinst mich an. Mein wütender Blick scheint sie nicht im geringsten zu stören, denn sie fordert schon wieder Flüs - nein, dieser Hammambesuch war alles andere als erfreulich."

Nach drei Tagen verlassen wir Aleppo. Die Stadt gehört für uns neben Fès, Kairo und Damaskus zu den schönsten unserer Reise, denn vor allem die Souqs sind traumhaft. Es gibt nur wenige arabische Städte, die es in puncto Ursprünglichkeit und Atmosphäre mit Aleppo aufnehmen können.
In westlicher Richtung fahren wir zur Grenze bei Bab al-Hawa, wo die Ausreiseformalitäten an diesem elften Grenzübergang unserer Reise unkompliziert und schnell erledigt sind.


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