Teil 8: Türkei und Rückreise
 
Durch die Eiszeit nach Hause

Genauso schnell wie die Ausreise aus Syrien geht auch die Einreise in die Türkei vonstatten. Am Abend fahren wir durch den Hafenort auf der E5 weiter am Mittelmeer entlang. An der stark befahrenen Fernstraße stellen wir uns bei Adana an einen der zahlreichen Tankstellen-Rastplätze mit billigen Übernachtungsmöglichkeiten und "Lokantas", einfachen Restaurants für die vielen Fernfahrer.

Sonntag, 07.02.93
Wir kaufen wir an einem der vielen Straßenstände einen großen Beutel Orangen, die im milden Klima der fruchtbaren Küstenebene gut gedeihen und gerade frisch geerntet werden. Von Meereshöhe fahren wir hinauf ins Taurus-Gebirge, das zwischen Küste und dem anatolischen Hochland liegt. Nur die Gebiete an den Küsten und der europäische Teil der Türkei - gerade mal ein fünftel der gesamten Fläche - liegen niedriger als 500 Meter. Eine Nebenstraße führt uns auf den "Gülek Bogazi"-Paß in 1050 Meter Höhe, wo die Straße sich zu einer schmalen Felsschlucht, der sogenannten "Kilikischen Pforte", verengt. In der Antike war sie ein wichtiger Übergang in die Zentraltürkei und entsprechend umkämpft. Über einem weiteren Paß schlängelt sich die Hauptstraße dann weiter hoch auf knapp 1600 Meter. Die Aussicht ist ungewohnt: Berge, Wald und Schnee. Vorbei ist es mit brauner Wüste im grellen Sonnenlicht. Keine Sanddünen, keine kahlen Berge und tiefe trockene Wadis mehr - europäischer Wald und Winter haben uns wieder. Je weiter wir nach Zentralanatolien hineinfahren, desto dichter wird die Schneedecke - die Straßen sind aber noch frei.
Wir erreichen den Landstrich "Kappadokien" in Zentralanatolien am Nachmittag. Bis zum dritten Jahrhundert hatte sich in diesem Teil des römischen Reiches, trotz der Ablehnung und Ächtung der heidnischen Römer, ein wichtiges Zentrum des frühen Christentums entwickelt. Der Apostel Paulus hatte es in diesen Landesteil verbreitet. Nach der Aufteilung des Römischen Reichs in ein Ost- und Weströmisches Reich gehörte Kappadokien zum Oströmischen, dem Byzantinischen Reich. Die Byzantiner erklärten im Jahr 391 das Christentum zur Staatsreligion, worauf sich zahlreiche neue Mönchsgemeinden in Kappadokien ansiedelten. Im siebten Jahrhundert unterlagen die Christen in den kriegerischen Auseinandersetzungen mit den muslimischen Invasoren. Die Seldshuken, deren Reich sich vom Aralsee bis nach Mekka ausdehnte, eroberten im elften Jahrhundert Zentralanatolien und weite Teile von Byzanz. Sie tolerierten den christlichen Glauben ihrer Untertanen. Allerdings waren muslimische Bauern von der Steuerpflicht befreit, denn schließlich gehörte das Land Allah, und es sollte in erster Linie von seinen Gläubigen genutzt werden. Viele Christen traten wegen dieser Benachteiligung zum Islam über. 1314 wurde der letzte seldshukische Sultan in einer Schlacht gegen die Mongolen getötet. Richtig Fuß fassen konnten die Mongolen aber nicht, und so teilten sich die Seldshuken-Gebiete in kleine Staaten auf. Anfang des 14. Jahrhunderts ergriffen die Osmanen auch über die verbliebenen Gebiete der Byzantiner die Macht. Die Osmanen unterdrückten bei der Ausbreitung ihres Weltreiches den christlichen Glauben im ehemaligen Byzantinischen Reich und in Kappadokien endgültig.
30 Kilometer vor dem Ort Nevsehir besichtigen wir die unterirdische Höhlenstadt "Derinkuyu". Sie wurde angelegt, um den Christen in der Not Schutz vor den Überfällen der Perser, Araber oder Mongolen zu bieten. Bis zu 20 000 Menschen fanden hier Zuflucht. Die Anlage ähnelt einem Hamsterbau, in dem ein System von Höhlen und Gewölben in sieben Stockwerken über 60 Meter tief miteinander verbunden ist. Es ist ein richtiges Labyrinth, in dem für Besucher ein beleuchteter Rundweg markiert ist. Ansonsten würde man sich in den vielen Höhlen und schmalen Gängen hoffnungslos verirren, denn Unüberschaubarkeit war ein Zweck zur Verteidigung der Anlage. Zusätzlich konnten viele der Gänge mit mühlsteinförmigen Steinen verschlossen werden, wobei ein leichtes Gefälle das Rollen der zentnerschweren Steine erleichterte. Gelang es dem Feind doch einzudringen, so konnte er durch Löcher im Boden und in den Wänden von allen Seiten mit Speeren bekämpft und am weiteren Vordringen gehindert werden. Wegen einer möglichen Belagerung legten sich die Bewohner Nahrungsmittellager und sogar Weinkeller an. Auch Kirchen, Schulen und Ställe wurden in das Gestein gemeißelt. Das Wasser schöpften sie aus eigenen Brunnen, die nicht vergiftet werden konnten. Ein ausgeklügeltes Kaminsystem sorgt noch heute für die Belüftung der Anlage. Viele Teile sind noch nicht erschlossen, genau wie weitere 40 kleinere unterirdische Stadtanlagen, die in Kappadokien vermutet werden.
Draußen hat es inzwischen angefangen zu schneien. Wir fahren los, um uns wegen der Kälte ein Hotelzimmer zu suchen. Das ist aber gar nicht so einfach, denn leider haben fast alle Hotels in und um den touristischen Hauptort Göreme geschlossen. Wasser und Strom sind abgestellt, alles ist zum Überwintern eingemottet. Wir finden nach langem Suchen aber doch einen einzigen der zahlreichen Campingplätze, der noch geöffnet ist. Der Gemeinschaftsraum, gleichzeitig Teppichgeschäft des Besitzers, wird von zwei Öfen auf erträgliche Temperaturen angeheizt. Für die Nacht kuscheln wir uns in sämtliche Bettdecken, Schlafsäcke und Handtücher, die wir dabei haben.

Am Morgen belebt uns eine heiße Dusche von außen und ein Liter Tee von innen. Eingepackt in unsere dicksten Winterklamotten und mit knallgelben algerischen Turbanen, die dem Schneesturm trotzen sollen, starten wir unsere Besichtigungstour durch die Mondlandschaft des Göreme-Tals. Sie ist übersät mit skurrilen Steinformationen und an vielen Stellen von tiefen Schluchten eingeschnitten. Mächtige Felsen ragen einzeln und in großen Gruppen als Säulen, Obelisken oder steile Felsenkegel, die wie Zuckerhüte aussehen, aus dem schneebedeckten Erdboden hervor. Dieses Naturwunder entstand durch mehrere Vulkanausbrüche vor über 30 Millionen Jahren. Die Lava und Asche verfestigte sich mit der Zeit in mehreren Schichten zu Tuffgestein unterschiedlicher Festigkeit. Wind und Wetter erodierten es zu diesen einmaligen Formen.
Aber auch der Mensch formte diese Traumlandschaft. Das weiche Tuffgestein läßt sich leicht bearbeiten, und so gräbt man sich schon seit Jahrtausenden Wohnungen in die Felswände und die freistehenden Felsenkegel. Zu den Zeiten der Christenverfolgungen entstanden auch versteckte Kirchen, Kapellen und Klöster. In ihnen und in den Wohnhöhlen legten die Christen geheime Fluchtverstecke an, die oft im obersten Bereich lagen und nur durch enge Kamine oder Steigtreppen zu erreichen waren. In Göreme besichtigen wir eines der geistigen Zentren aus dieser Zeit, das heute ein "Freilichtmuseum" ist. Es liegt in einem Talkessel mit vielen schroffen Tuffkegeln, der von einem Steilabfall und einer zerklüfteten Felswand begrenzt wird. Am Eingang stehen sich die Felspyramiden des Nonnen- und des Mönchsklosters gegenüber. In ihnen waren Wohnungen, Studien- und Besinnungsräume sowie Abendmahlsäle untergebracht. In das umliegende Gestein wurden insgesamt 13 Kirchen und Kapellen geschlagen, deren Innenwände und Deckengewölbe mit Engels- und Heiligenbildern bunt bemalt sind. Fast allen dargestellten Menschen wurden nach der arabischen Eroberung die Augen ausgekratzt, weil für die Muslime deren Abbildung tabu ist. Viele der Eingänge sind vergittert, denn auch die Touristen hinterlassen schwere Schäden. Überall in den versteckten Winkeln haben sie Namen, Initialen oder Herzchen eingeritzt, und an einigen Stellen sind ganze Fresken skrupellos herausgebrochen.
Draußen ist der Boden mit einer Eisschicht überzogen, wir rutschen von einer Höhlenkirche zur nächsten und schließlich zum Bulli, in dem es auch nicht viel wärmer ist. Wir drehen die Heizung voll auf und beschließen, erstmal eine Rundfahrt durch die Umgebung zu machen und uns aufzuwärmen. In einem Umkreis von etwa 20 Kilometern um Göreme häufen sich die meisten Sehenswürdigkeiten an. Im Sommer sieht die Landschaft sicher noch imposanter aus als bei diesem matschigen und ungemütlichen Schneesturm.
Das "Tal der Mönche" in Zelve, etwa fünf Kilometer nördlich von Göreme, ist durch eine Felswand in zwei Hälften geteilt. Die Wände sehen aus wie Löcherkäse: Überall Höhlen, in denen bis ins 15. Jahrhundert hinein Christen und Muslime friedlich je eine Hälfte des Tales bewohnten. 1952 verließen hier die letzten Bewohner ihre Höhlen, als die Regierung sie in das neue Zelve umsiedelte. Die Einsturzgefahr in den bis an die Grenze der Belastbarkeit ausgehöhlten Felsen war zu groß. Außerdem fiel den Ärzten bei vielen Bewohnern eine seltene Krankheit auf: Die Ursache ist Zeolith, ein vulkanisches Silikat, das sich aus dem Gestein im Lungengewebe festsetzt.
In der ganzen Umgebung werden die Menschen systematisch seit den 70er Jahren in Regierungsneubauviertel umgesiedelt. Viele freuen sich über den Wohlstand in den neuen, subventionierten Wohnungen, aber viele wurden gegen ihren Willen zwangsumgesiedelt. Die Neubauviertel sind den kulturellen Gegebenheiten und Bedürfnissen der Bewohner nicht in dem Maße wie die Tuffhöhlen angepaßt. Das Tuffstein gleicht die extremen Temperaturen dieser Region - von 40 Grad im Sommer zu 20 Grad minus im Winter - bestens aus. Es hält im Sommer die Hitze draußen und die kühle Feuchtigkeit drinnen, und im Winter isoliert es gegen die Kälte. Die neuen Häuser aus Beton sind im Winter schwer zu heizen, und im Sommer staut sich die Hitze.
Die Bauern konnten Teile ihrer Ernte hervorragend in den Höhlen lagern, was bei der Subsistenzwirtschaft, in der sie hier fast autark leben, besonders wichtig ist. Da die Tuffwände luft- und feuchtigkeitsdurchlässig sind, bleibt Brot über Jahre haltbar. Deshalb backen die Frauen auch nur selten, aber dann in Dorfgemeinschaftsarbeit direkt mehrere Zentner. Luftig aufgehängte Trauben bleiben bis zu einem halben Jahr frisch. Die feuchtigkeitsspeichernde und fruchtbare Tufferde eignet sich trotz der heißen und trockenen Sommer bestens zum Weinanbau. Trauben sind das Hauptanbauprodukt, die zu Sirup eingekocht oder zu Rosinen getrocknet im Winter gegessen werden. Lagermöglichkeiten gibt es in den neuen Wohnungen nicht, wodurch die Bauern abhängiger vom Angebot der Lebensmittelläden werden. Viele können sich diese teuren Waren nicht leisten, ihre Anbauprodukte lassen sich aber nur schwer absetzen und die Gewinne sind niedrig. Sie bauen seit jeher die Dinge an, die sie selbst benötigen, und orientieren sich noch nicht am Wirtschaftsmarkt. Eine Umstellung der Produkte und Anbaumethoden ist nicht leicht, weil oft Wissen und Geräte fehlen. Viele möchten aber auch nicht mit alten Traditionen brechen.
Ställe gibt es genausowenig wie Lagerräume, und die neuen Häuser sind oft zu dicht nebeneinander gebaut. Deshalb errichten viele nachträglich Zäune oder Mauern, um sich gegen die Öffentlichkeit abzugrenzen. Ebenso muß die traditionell so beliebte, halboffene Diele erst noch an das Haus gebaut werden. Und wenn das Geld für teures, von weit herantransportiertes Baumaterial fehlt, dann wird mit Wellblech oder Planen und Pfosten improvisiert. Kostspielig ist für viele Umsiedler auch die Anschaffung von Möbeln, die in den Höhlen ja direkt ins Gestein gemeißelt wurden.
Die alten Höhlenwohnungen verfallen immer mehr. Besonders jüngere Leute wollen von den traditionellen Lebensformen nichts mehr wissen. Westlicher Lebensstil läßt sich nicht in Höhlen leben. Der Tourismus bietet in der heutigen Zeit eine neue Erwerbsquelle. Viele rüsten die Höhlen für die Touristen um: in Höhlenhotels, Höhlendiscos, Höhlenrestaurants oder Höhlenbars. Mit den Einnahmen werden die aufgenommenen Kredite getilgt. Entsteht ein Gewinn, wird er meist in bessere Wohnhäuser investiert - und das sind nun mal nicht die Höhlen.

Am nächsten Morgen schneit und stürmt es noch immer. Im Bulli ist alles gefroren: die Wasserleitung, die Wasserflaschen, das Schwitzwasser an den Scheiben und unsere nassen Stiefel, die wir vergessen hatten, an den Ofen zu stellen. Standheizung und Gaskocher tauen einiges wieder ein wenig auf. Wir wollen raus aus der Eiszeit in Anatolien, hinein in die tiefergelegenen Gebiete der Westtürkei. Aber dies ist leichter gesagt als getan, denn der Bulli springt nicht an. Die Batterie haben wir mit der Standheizung ordentlich beansprucht, und auch die Dieselleitungen scheinen zugefroren zu sein. Erst jetzt fällt uns ein, daß türkischer Diesel nicht unbedingt frostsicher ist. Und wir haben auch nicht daran gedacht, etwas Normalbenzin mit in den Tank zu mischen, denn auch das würde das Kristallisieren, das "Einsulzen" des Dieselkraftstoffes verhindern. Nach einigen Versuchen springt unser treuer Bulli dann doch an. Mit durchgetretenem Gaspedal im ersten Gang zuckeln wir in Schrittgeschwindigkeit über die verschneite Straße nach Nordwesten in Richtung Ankara. Nach über zehn Kilometern und fast einer Stunde Fahrzeit wird der Wagen endlich schneller. Der Motor ist richtig warm, so daß die Dieselkristalle sich auflösen und der Sprit wieder normal durch den Dieselfilter in die Einspritzanlage fließt.
Der Schneesturm tobt immer stärker. Mit ungeheurer Kraft prallen die Böen gegen die Scheiben. Nach über 50 Kilometern plötzlich ein Stau. Wir sind genauso ratlos und eingekeilt wie die anderen und wissen nicht, wie es weitergeht. Keiner wagt, in den Schneesturm hinauszugehen und nachzusehen, was los ist. Nach einer dreiviertel Stunde bläst unsere Heizung nur noch lau. Den anderen scheint es genauso zu gehen, denn wie auf ein geheimes Kommando gestikulieren und hupen alle wild, und jeder will wenden und zurückfahren. Jetzt erst sehen wir, was vor uns los ist: ein LKW liegt halb im Graben und steckt in einer Schneewehe fest. Räumfahrzeuge sind weit und breit nicht in Sicht. Wir kehren um und fahren wieder Schrittgeschwindigkeit, denn der eisige Sturm hat den Diesel erneut versulzt. Zum Glück geht es mit Rückensturm bergab, so daß wir langsam Meter für Meter vorankommen. Nach einigen Kilometern finden wir in einem kleinen Dorf tatsächlich unsere Rettung - ein gewöhnliches "Petrol Offisi" mit Normalbenzin. Damit der Motor nicht ausgeht, kämpfen wir mit dem Gaspedal, während der Tankwart draußen vom Winde verweht wird. Die Mischung von Normalbenzin und Diesel wirkt, und nach einigen hundert Metern können wir wieder in den zweiten, dritten und sogar in den vierten Gang schalten.
Wir fahren wieder durch die Orte, durch die wir vor Stunden gekommen sind. Der Sturm hat sich gelegt, aber die Straße ist stellenweise stark vereist. Schließlich besteht sie nur noch aus einer dicken, funkelnden Eisschicht. Wieder fahren wir Schrittempo und fürchten schon, irgendwo hier am Straßenrand übernachten zu müssen. Aber als unsere Straße nach 60 Kilometern auf die E5 nach Ankara einmündet, ist der ganze Spuk plötzlich vorbei. Streufahrzeuge haben Salz gestreut, so daß wir mit Vollgas auf den Tuz Gölü Salzsee zusteuern können. Anatolische Eiszeit ade! Doch wir haben uns zu früh gefreut: Vor einem Paß wandelt sich die Straße wieder zu einer Eisbahn. Da es dunkel wird, stellen wir uns entnervt und niedergeschlagen zu den Truckern auf einen Rastplatz. Wie es sich für richtige Fernfahrer gehört, lassen sie ihre Motoren die kalte Nacht über im Standgas laufen.

Mittwoch, 10.02.93
Die Arbeiter vom Streudienst müssen eine Nachtschicht eingelegt haben, denn als wir wach werden, ist die Straße frei, und die LKW quälen sich den Paß hinauf. Kurz vor Ankara ist weit und breit keine Schneeflocke mehr zu sehen, und sogar die Sonne scheint wieder. Nach über drei Tagen hat das Frieren endlich ein Ende - alhamdulillah.
Am Nachmittag erreichen wir nach 400 Kilometern Istanbul, wo wir uns direkt auf die Suche nach einer VW-Werkstatt machen. Da hier die Reparaturkosten erheblich günstiger als in Deutschland sind, möchten wir hier unseren Zahnriemen austauschen und ein kleines Ölleck reparieren lassen. Kurz vor Ladenschluß finden wir den VW-Hauptimporteur und erfahren, daß die Reparatur gleich morgen früh beginnen kann. Der Chef ist Deutscher, er übersetzt alle unsere Aufträge ins türkische für die Arbeiter. Zum Schlafen stellen wir uns direkt vor der Werkstatt an die Straße, denn der Motor muß morgen früh kalt sein. Um an dieser dröhnenden sechsspurigen Hauptverkehrsstraße schlafen zu können, greifen wir zur Notlösung in Form einer Schlaftablette. Aber wie so oft klopft wieder ein Nachtwächter an unsere Tür. Er möchte wissen, ob unser Auto schwer kaputt ist und bittet uns zum Tee in seine Wachstube. Nach einigen Gläsern schlägt er uns vor, im Hof zu schlafen. Das sei zwar eigentlich verboten, aber an der Straße sei es doch viel zu laut. Gesagt, getan - "idschi yolduschuluklar", "gute Nacht".

Am Morgen merkt niemand, daß wir auf dem Gelände geschlafen haben. Wir fahren in die Halle, und gleich drei Mechaniker beginnen, den Motor auseinander zu schrauben. Unser Vertrauen in die Arbeit von Werkstätten ist durch diversen erlebten Pfusch nicht allzu groß, so daß wir ihnen noch den ganzen Vormittag über die Schulter schauen, bevor wir mit beruhigtem Gewissen und knurrendem Magen endlich gehen. Mit dem Stadtbus quetschen wir uns durch den chaotischen Verkehr ins Zentrum, wo wir als erstes frühstücken: Döner Kebab mit Domates Salatasi, das ist ja fast schon wie zu Hause. Auf der Hauptpost holen wir unsere letzte Post ab. Unseren Freunden und Eltern haben wir regelmäßig unsere nächste Poste Restante Station angegeben, um so mit Neuigkeiten aus der Heimat versorgt zu werden.
Anschließend bummeln wir durch den umliegenden Basar. Der "Kapali Carsi", wörtlich übersetzt "der gedeckte Markt", wurde vom osmanischen Sultan Mehmed Fatih eröffnet. Den Beinamen "Fatih", "der Eroberer", hat der gerade erst 21jährige durch die Belagerung und Eroberung Istanbuls im Jahr 1453 erhalten. Die Herrschaft der Byzantiner war damit nach über hundert Jahren Krieg mit den osmanischen Stämmen endgültig beendet. 1326 hatten diese die türkische Stadt Bursa zur Hauptstadt ihres aufstrebenden Reiches ernannt. Sie eroberten weite Teile Griechenlands und Kleinasiens und drangen bis Südeuropa vor. Das byzantinische Reich bestand zu dieser Zeit nur noch aus seiner Hauptstadt. Ihr Name war seit 330 "Konstantinopel", benannt nach dem damaligen Alleinherrscher des Römischen Reiches, Kaiser Konstantin dem Großen. In ihrer tausendjährigen Stadtgeschichte hatte sie sich zu einer Metropole entwickelt, die genauso prachtvoll und geschichtsträchtig wie Kairo, Damaskus oder Bagdad war. Unter Mehmed Fatih wird Konstantinopel in Istanbul umgetauft und zur Hauptstadt des osmanischen Reiches ernannt. 31 Sultane beherrschten das Weltreich bis zum ersten Weltkrieg. In seiner größten Ausdehnung reichte es von Marokko über Nordafrika und Teile der Arabischen Halbinsel bis an die Grenze Persiens und sogar bis vor die Tore Wiens. 
Der große Basar ist ein 42 000 Quadratmeter großes, prächtig angelegtes "Warenhaus", in dem über 3500 Geschäfte durch ein Netz von überdachten Gassen miteinander verbunden sind. Durch Erdbeben und Brände wurde die Anlage oft beschädigt und anschließend neu renoviert, so daß sie sich heute in ihrer schönsten Pracht zeigen kann. Weiße Steinarkaden tragen das ebenso weiße gewölbte Dach. Im regelmäßigen Abständen fällt durch die Dachfenster weiches Licht ein. Es dringt aber nicht bis zu den Läden hinunter, daher beleuchten grelle Flutlichter die Waren. Die Bögen und Kuppeln des Daches sind mit blauen und roten Ornamenten bemalt. In den Kreuzungen zweier Gänge lassen mächtige Kronleuchter den Eindruck entstehen, man stünde in einem mächtigen Saal. In diesem teuren Vorzeige-Luxusbasar kaufen fast ausschließlich Touristen. Einheimische gehen nur spazieren oder kaufen, sofern sie es sich leisten können, aus einem der über 500 hoch angesehenen Juwelier- und Schmuckläden die kostbaren Hochzeitsgaben für ihre Frau. In den halbrunden Eingangsportalen der Läden sitzen die Verkäufer und versuchen in der passenden Landessprache des Besuchers auf sich und ihre Waren aufmerksam zu machen. "Hallo mein Freund, gucken sie meine Souvenirs, Teppiche, Wasserpfeifen, Leder, Jeans - guter Preis.". Diese astronomischen Preise sind allerdings nur für ihn gut. Die zweite Art von Werbung bezieht sich auf die Qualität: "alles Handarbeit" oder "garantiert antik" sind die Schlachtrufe, die nur in den seltensten Fällen stimmen. Aber die dreisteste Werbelüge bezieht sich auf die Herkunft: "original französisches Parfum", "echtes Boss-Hemd", "original Levi's-Jeans" - aber alles made in Turkey. So schön diese Anlage auch ist, wir fühlen uns hier nicht wohl.
Nach einer Schlemmerrunde in einem Puddingladen fahren wir zurück in die Werkstatt. Wir möchten rechtzeitig vor Ladenschluß dort sein, um nachzufragen, ob Probleme aufgetreten sind. Aber der Motor ist schon fast wieder zusammengebaut. Nach einer Proberunde checken die Mechaniker noch mal alles durch, und am Abend heißt es dann "Bitte bezahlen". Gut, daß alles nach festen Listenpreisen geht. Insgesamt bezahlen wir für acht Stunden Arbeit, einen neuen Zahnriemen, eine neue Zylinderkopfdichtung, eine neue Wasserpumpe, Öl und Ölfilter, Kühlmittel, repariertes Schwungrad und diverse Dichtungen knapp zwei Millionen Lira, umgerechnet keine 400 DM. In Deutschland wäre vermutlich das Dreifache fällig gewesen. Zum Übernachten lädt uns der Nachtwächter wieder in den Innenhof ein und wir ihn als Dankeschön zu einer großen Portion der beliebten Blätterteig-Nuss-Honig Süßigkeiten.

Dieser Tag wird für uns der letzte in einer orientalischen Stadt sein, deshalb suchen wir uns für das heutige Sightseeing bewußt die Hauptattraktionen aus. Zuerst besichtigen wir die größte Moschee der Stadt, die "Sultan Ahmet Camii" oder auch "Blaue Moschee" genannt. Sechs schlanke Bleistiftminarette weisen auf die große Bedeutung hin, die diese ab 1603 erbaute Moschee besitzt. Nur die Ka'aba in Mekka besitzt noch ein Minarett mehr. Durch einen riesigen Hof betreten wir den Gebetsraum durch mächtige Bronzetüren und sind begeistert von seiner Schönheit. Unter den mit blauen Kacheln und Ornamenten verzierten Kuppeln hängt eine große runde Konstruktion aus vielen kleinen Lampen. Unzählige bunte Glasfenster lassen die Mauern nicht ganz so mächtig wirken. Durch die hinter einer Absperrung gehaltenen Touristenmassen kommt leider keine ruhige oder gemütliche Atmosphäre auf. Es hat mehr was von einem Volksfest in einem Museum, in dem man sich noch nicht einmal mehr an eine moscheegeeignete Kleiderordnung anzupassen braucht. Die Gäste haben Narrenfreiheit. Einer steigt sogar über die Absperrung, stellt sich hinter einen ahnungslos Betenden und filmt ihn mit seiner Videokamera.
Die benachbarte "Hagia Sophia" sieht mit ihren fünf Minaretten zwar aus wie eine Moschee, sie war aber ursprünglich die größte byzantinische Kirche Konstantinopels. 532 wurde sie an der Stelle erbaut, an der zuvor schon zwei wichtige, gleichnamige Kirchen standen. Mehmed Fatih wandelte sie in eine Moschee um, und seit 1934 ist das Gebäude ein Museum. Auch sie strahlt eine erhabene Schönheit aus. Alleine die Zentralkuppel sprengt alle Rekorde. Sie hat einen Durchmesser von 30 Metern und ist in 56 Meter Höhe scheinbar schwebend angebracht. Schwebend, weil eine Linie aus 40 kleinen Fenstern mit nur schmalen Mauern die Kuppel mit dem Rest des Daches verbindet. Von jedem Fenster laufen gemusterte Rippen in das kalligraphisch verzierte Zentrum, so daß die Kuppel wie eine schwebende Sonne aussieht. Vom arkadengesäumten Galeriegang aus kann man die reichen Goldverzierungen der Decke noch besser bewundern. An den Pfeilern der Galerie hängen sechs schwarze Rundschilder. In der goldfarbenen kalligraphischen Schrift können wir die Namen Allahs, Muhammads und der ersten vier Kalifen Abu Bakr, Omar, Othman und Ali entziffern. Kunstvolle Mosaike mit Abbildungen von Jesus als Kind und Erwachsener, der Jungfrau Maria, Johannes dem Täufer, byzantinischen Kaisern und Heiligen verweisen auf die eigentliche Bestimmung des Gebäudes. Dieses friedliche Zusammenspiel von muslimischen und christlichen Elementen ist eine bemerkenswerte Symbolik der Hagia Sophia.
Der Mittelpunkt des Osmanischen Reiches war der Topkapi Sarayi der Sultane. Über 5.000 Bewohner, die von mehr als doppelt so vielen Menschen bedient wurden, lebten in diesem Palast. Er besaß alle Einrichtungen, die zum selbständigen Funktionieren nötig waren: Residenzen der Generäle und obersten Palastwachen, Audienzsäle, herrschaftliche Stallungen, Palastschule für die Pagen des Sultans, Metzgereien, Feuerholzlager, Munitionslager (in einer ehemaligen Kirche), Parade- und Exerzierplätze, Krankenanstalt, Wohnungen für den obersten Gärtner und Henker, Hinrichtungsplatz mit einer Schale für die Köpfe, Bibliothek, Schatzkammern für die Steuern und Tributzahlungen sowie zahlreiche Höfe und blühende Gärten. Im vierten Hof, dem am stärksten bewachten, lebte die Sultansfamilie mit ihrem treusten Gefolge. Hier befanden sich die Sultan- und Prinzengemächer, Gemächer und Hof der Sultaninmutter, Beschneidungsraum, goldene Pavillons, die Terrasse der Favoritinnen und nicht zu vergessen: der Harem. Das heutige Museum umfaßt aber nur ein Drittel der ursprünglichen Anlage. Wir besichtigen lediglich einen Bruchteil der vielen herrlichen Säle und Sammlungen, die den Luxus des Palastlebens dokumentieren. Hinter Glasvitrinen funkeln Juwelen und Gold, geschmückte Waffen, Kaffeekannen, Teller, und Trinkbecher um die Wette. Im "Pavillon des heiligen Mantels" sind Reliquien des Propheten ausgestellt. Sein Banner, sein Säbel, ein Zahn und ein Büschel Barthaare - beim Barte des Propheten! Ein türkischer Familienvater, der sich diese Schätze mit seiner Familie ansieht, sagt, saudi-arabische Shaikhs hätten der Türkei angeboten, sie in Zukunft umsonst mit Öl zu versorgen, wenn diese Reliquien an Saudi-Arabien ausgehändigt würden.
Es wird gerade dunkel als wir per Stadtbus zum Bulli zurückfahren. Wir verlassen Istanbul und fahren an diesem Abend auf leerer Autobahn noch 200 Kilometer bis kurz vor Edirne im türkisch-griechisch-bulgarischen Ländereck.

Samstag, 13.02.93
An einer "Duty Free" Tankstelle auf der türkischen Seite des Grenzüberganges sind die Preise in DM ausgezeichnet. Auf der gesamten Balkanroute scheint die deutsche Währung das gängige Zahlungsmittel zu sein. Das Transitvisum für Bulgarien kostet uns je 35 DM, und die Straßenbenutzungsgebühr wird uns mit einer weiteren Mark in Rechnung gestellt.
Ab jetzt lautet unser Motto fahren, fahren, fahren, denn unsere Reise ist ab Istanbul für uns eigentlich beendet. Jetzt möchten wir nach Hause - ohne Hetze, aber auch ohne zu bummeln. An diesem Tag fahren wir auf der gut ausgebauten E5 an Sofia vorbei und dann auf einer kleinen Landstraße durch die verschneiten Berge bis kurz vor die rumänische Grenze bei Vidin.

Als wir am nächsten Morgen über die Grenze wollen, heißt es erstmal Schlange stehen. Die Donau markiert die Grenzlinie, und sie ist nur mit einer Fähre zu überqueren. In vier Stunden schleichen wir die drei Kilometer zur Anlegestelle und nach einer weiteren halben Stunde legt das Boot ab. Neben Zeit kostet der Spaß noch knapp 60 DM, und die rumänischen Transitvisa bezahlen wir mit weiteren 23 US-Dollar pro Person. Auf den schlechtesten Hauptstraßen dieser Tour fahren wir quer durch die Südkarpaten. Sie sind schmal, am Rande ausgefranst und haben tiefe Schlaglöcher. Die Zeichen der Armut des Landes sind allgegenwärtig. Uns fallen die vielen Pferde- und Eselkarren mit ihren schiefen Holzrädern, die zahlreichen Schäfer im Schafspelz mit ihren Herden und die Ziehbrunnen in den Dörfern auf. Die Tankstellen sind größtenteils geschlossen, und immer wieder sehen wir jemanden, wie er sein Auto schiebt. Eine Polizeikontrolle stoppt uns, und wir befürchten schon, daß sie uns mit fadenscheinigen Begründungen um Devisen erleichtern wollen. Aber alles, was sie nach der Kontrolle der Papiere wollen, ist ein Souvenir, eine deutsche Münze. So tauschen wir einen Groschen gegen einen rumänischen Leu.
Nach 12 Stunden und 450 Kilometern passieren wir am Abend die ungarische Grenze.

Ungarn ist unverkennbar ein beliebtes deutsches Urlaubsland. Die Orte sind voll von Schildern mit der Aufschriften wie "Zimmer frei" oder "Exchange". In einem kleinen Lebensmittelgeschäft halten wir ein deutschsprachiges Schwätzchen mit der Kassiererin und bezahlen - wie könnte es anders sein - mit DM. Wir nutzen die dreispurigen Landstraßen und fahren an diesem dritten Fahrtag Non Stop. Überhaupt ist fast alles hier Non Stop: "Non Stop Exchange", "Non Stop Shopping", "Non Stop warme Küche", "Non Stop Toalit". Die Autofahrer fahren wieder kleinlich genau nach Verkehrsregeln, und es wird auch für uns Zeit, uns wieder an diese zu gewöhnen. In Budapest drehen wir eine kleine Stadtbesichtigungsrunde, aber leider hat uns auch die Parkplatzknappheit wieder, und so wird nichts aus einem Mittagessen in dieser hübschen Stadt.
Nach einem kurzen Umweg zum Tanken über die Slowakei erreichen wir Österreich. Auf einen Rastplatz hinter Wien machen wir Pause und so manche Alltäglichkeit bereitet uns besonderes Staunen. Zum einen die Klos: es gibt auch Frauenklos, sie sind zum Sitzen, sie sind groß und so sauber, daß man vom Fußboden essen könnte. Im Waschraum fließt Wasser, sogar warmes, es gibt Seife, und die kommt aus einem hygienisch einwandfreien Spender und zur Krönung gibt es - außer dem Hosenbein - auch etwas zum Hände abtrocknen. An der Tür hängt ein Beschwerdebriefkasten, da müßte man zum Vergleich das Foto eines Klos in einem ägyptischen Billigrestaurant anheften. Am Haupteingang steht ein Schuhputzautomat. Keiner der unzähligen Schuhputzer, die wir während unserer Reise getroffen haben, würde glauben, daß es eine solche Maschine gibt, geschweige denn, daß sie die Schuhe zur Zufriedenheit des Kunden putzt.
Zum anderen fällt uns aber auch die Hektik der Menschen auf. In welcher Eile sie essen, wie hastig sie vom Klo zum Auto rennen, wie sehr alles von Hetze geprägt ist, ist noch ungewohnt. In den letzten Monaten haben wir eine ganz andere Einstellung zur Zeit entwickelt, da sie keine so wichtige Rolle in arabischen Ländern spielt. Aber bald werden wohl auch wir wieder in diesem gewohnten Trott sein - ohne es zu wollen und auch ohne es zu merken.
Am deutschen Grenzübergang liege ich hinten und schlafe, was den Zöllner gar nicht interessiert. Über Nacht stellen wir uns direkt vor das Zollgebäude.

Bevor wir weiterfahren, müssen wir die Wiedereinfuhr des Bullis nach Deutschland im Carnet de Passages vom deutschen Zoll bescheinigen lassen. Erst mit dieser "Standortbescheinigung" erstattet der ADAC die Zollbürgschaft zurück, denn nun kann kein ausländischer Zoll mehr behaupten, wir hätten das Auto nicht wieder ausgeführt. Der Zöllner sieht nur nach, ob das Nummernschild und die Farbe übereinstimmen. Mit einem Augenzwinkern bemerkt er noch: "Sie haben doch hoffentlich keinen Teppich zu verzollen?!" und in fünf Minuten ist der ganze Papierkram erledigt.

Am Abend dieses vierten Tages der Rückfahrt erreichen wir das heimatliche Köln. Nach viereinhalb Monaten und 19 213 Kilometern erblicken wir den Dom, überqueren den Rhein und sind - ahlan wa-sahlan - wieder zu Hause.

 
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