Teil 5: Ägypten

 
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Großstadt- und Sinai-Schluchten - Ägypten

  
Schon bevor die ägyptische Grenzstation in Sicht kommt, erwartet uns eine schier endlose Autoschlange. Nach dem spärlichen Verkehr auf den letzten Kilometern in Libyen hatten wir einen solchen Ansturm nicht erwartet. Die meisten der Wartenden sind ägyptische Gastarbeiter auf dem Weg nach Hause.
Schon von weitem erkennt uns ein ägyptischer Zöllner als Ausländer, ruft uns laut "Welcome in Egypt" zu und winkt. Das lassen wir uns natürlich nicht entgehen. Wir haben zwar ein komisches Gefühl, als wir an den schon seit Stunden wartenden Ägyptern vorbeirollen, aber wir sind doch heilfroh, daß uns dies erspart bleibt.
Die Zeit, die wir dabei eingespart haben, verbringen wir dafür mit dem Kennenlernen der ägyptischen Bürokratie. Seit der Regierungszeit Nassers wird jeder Hochschulabsolvent, der keinen Job findet, nach zwei Jahren Wartezeit in den Staatsdienst übernommen. Und da eine schlecht bezahlte Beamtenstelle immer noch besser als die zu erwartende Arbeitslosigkeit ist, nehmen sehr viele dieses Recht in Anspruch. Das Ergebnis ist ein bis zum Platzen aufgeblasener Verwaltungsapparat, in dem alle Posten doppelt und dreifach besetzt sind - so auch an dieser Grenze.
Als erstes begutachtet ein Zöllner das Auto auf einer Grube von unten, in das Wageninnere wirft er nur einen flüchtigen Blick. Nächste Station ist die Paßkontrolle: Wir wollen versuchen, eine Verlängerung unserer Visa auf zwei Monate zu erreichen. Normalerweise ist dies möglich, wenn man pro Person mindestens 180 Dollar in ägyptische Pfund eintauscht. Aber an diesem Grenzübergang ist davon anscheinend nichts bekannt. Nach langem, aber erfolglosem Bitten und Betteln schauen wir betrübt mit an, wie unsere Pässe mit einer nur einmonatigen Aufenthaltserlaubnis gestempelt werden. Es ist zwar einfach, sie in Kairo zu verlängern, aber nun bekommen wir auch die Autopapiere für nur einen Monat. Deren Verlängerung in Kairo ist angeblich ein nervenaufreibender Spießrutenlauf von Behörde zu Behörde.
Weiter geht es in das Büro für die Fahrzeugeinfuhr. Zuerst ist alles kein Problem: Schön sauber wird unser Carnet (ein Zolldokument, das für Ägypten unbedingt notwendig ist) vollständig ausgefüllt. An der Kasse sollen wir die Gebühren zahlen: 402 ägyptische Pfund, fast 200 Mark. Wir schauen den Zöllner halb erschreckt, halb ärgerlich an, worauf er sein breitestes Grinsen aufsetzt. Freundlich erklären wir ihm, daß wir diesen Betrag als etwas hoch empfinden. "You don't want to pay?" Wir schütteln die Köpfe. "So go back to Libya" und er beginnt, sämtliche Eintragungen und Stempel im Carnet wieder durchzustreichen. Ziemlich sauer machen wir uns auf den Weg zum Vorsteher dieser Station. Wir werden auch direkt in das richtige Büro geführt, anscheinend hat sich unser Fall schon herumgesprochen. Erstmal setzen, einen Tee trinken und ihm die ganze Geschichte schildern. Er erklärt uns, daß diese Einfuhrsteuer neu ist: 200 Pfund für Fahrzeuge bis 1200 Kubikzentimeter, 400 Pfund bis 2000 Kubik und 600 Pfund für größere. Als Kompromiß schlägt er uns vor, den Wagen in die kleinste Klasse einzustufen. Wir müßten somit nur 100 Mark bezahlen.
Doch als wir jetzt glauben, wir hätten den Papierkrieg geschafft, haben wir die Ausmaße ägyptischer Bürokratie gründlich unterschätzt. Zunächst schmiert der Zöllner, den wir von vorhin in so netter Erinnerung haben, reichlich Tipp-Ex in unser Carnet. Darauf drückt er neue Stempel und kritzelt ein paar arabische Worte dazu. Jetzt gleicht die Seite eher den Schreibversuchen eines arabischen Erstkläßlers als einem amtlichen Dokument. Mürrisch schickt er uns zur Nummernschildausgabe. Doch es fehlt noch eine Unterschrift vom Chef. Also ganz zum Eingang zurück. Der Chef ist nicht da, der Vizechef auch nicht und der Vize-Vizechef fühlt sich nicht zuständig. Nach einer Weile finden wir endlich jemanden, der unterschreibt. Zurück zur Nummernschildausgabe. Doch auch dieser Zöllner, inmitten von riesigen ungeordneten Papierbergen, schickt uns wieder weg. Erstmal müssen wir eine Versicherung für 20 Pfund abschließen. Auch danach gibt es noch keine Schilder - die Motornummer muß erst verglichen werden. Kofferraum ausräumen, Nummer suchen, vergleichen, wieder einräumen. Wir bezahlen 28 Pfund Gebühren und sind endlich am Ziel. Aus einem riesigen Berg von durcheinander liegenden Schildern fischt der Zöllner zwei (sogar gleiche) heraus. Doch bevor wir die ägyptische Zulassung erhalten könnten, bräuchten wir noch... Wir wissen schon: eine Unterschrift vom Abteilungschef, langsam kennen wir uns ja aus. Schließlich halten wir kurz darauf den ganzen Papierkram und die Schilder in unseren Händen. Auch ein Extrazettel, der darauf aufmerksam macht, daß ein Feuerlöscher zwingend vorgeschrieben ist, fehlt nicht. Als wir am Ausgang für das Öffnen der Schranke nochmals 20 Pfund berappen dürfen, werden uns die zwei wichtigsten Prinzipien der ägyptischen Bürokratie klar: Sie ist teuer, und jeder fühlt sich wie ein kleiner Chef. Und der Chef der Schranke läßt uns nur durch, wenn wir bezahlen.

Kurz vor Marsa Matruh fragen wir an einer Verkehrskontrollstation, ob wir uns zum Übernachten dahinter stellen dürfen. "Welcome to Egypt" und natürlich "Mesch mushkila", "kein Problem". Aber wir müssen erstmal auf einen Tee hereinkommen. In einer kleinen kombinierten Schlaf- und Schreibstube begrüßen uns sechs Verkehrspolizisten einstimmig mit "Welcome to house", womit sich ihr englischer Wortschatz schon erschöpft hat. Die nächsten zwei Stunden haben wir alle Spaß, trinken reichlich Tee, essen Limonen samt Schale und reichen Fotos herum. Zwischendurch immer wieder "Welcome to house", gefolgt von markerschütterndem Lachen und einem herzlichen Händeschütteln. Als wir uns schließlich müde losreißen können, kommen einige der Polizisten noch mit hinaus. Jetzt ist es an uns, sie mit "Welcome to house" zu begrüßen und sie staunen, daß unser Auto wirklich ein kleines rollendes Haus ist.
Am nächsten Morgen kontrollieren sie schon fleißig den Verkehr, als wir uns von ihnen verabschieden. In Marsa Matruh holen wir uns beim Immigration-Office den Registrationsstempel, der für alle Touristen vorgeschrieben ist. An jeder Ecke erschallt ein "Welcome to Egypt" und wir genießen es richtig, endlich wieder durch eine belebte Stadt zu bummeln. Am Büro der Tourist-Information und Tourist-Police dürfen wir über Nacht stehen. Der Chef des Office meint dazu: "Here you are safe. You are in the pocket of the government." Direkt gegenüber ist noch eine Militärstation - wir fühlen uns bestens beschützt.
Bisher gehörte Ägypten mit zu den sichersten Reiseländern. Jedoch spitzen sich die Auseinandersetzungen zwischen islamischen Fundamentalisten und der Regierung immer weiter zu. Seit einigen Jahren verüben die Islamisten Terroranschläge gegen staatliche Einrichtungen und den christlich-koptischen Bevölkerungsteil. In jüngster Zeit sind auch Touristen Zielscheibe der Gewalt. Die Touristenzahlen sind sprungartig zurückgegangen, seit es im oberägyptischen Assiut das erste ausländische Todesopfer gegeben hat. Die Fundamentalisten verfolgen damit eine Doppelstrategie: Die ungeliebten Ausländer sollen dem Land fernbleiben und der Staat an seiner empfindlichsten Stelle getroffen werden. Der Tourismus ist inzwischen Ägyptens wichtigste Devisenquelle und der Einbruch trifft nicht nur den Staat schwer, sondern auch die vielen Ägypter, die vom Tourismus leben. Die Islamisten wollen die Einheit von "Dawla" (dem Staat) und "Din" (der Religion) herstellen und die "Sharia" (islamische Rechts- und Gesellschaftsordnung) einführen. Das westlich orientierte System soll geschwächt und zu Fall gebracht werden. Die Reaktion von Präsident Mubarak ist eine verstärkte Polizei- und Militärpräsenz, verschärfte Anti-Terror-Bestimmungen und das Erlassen von Notstandsgesetzen. Schon die Zugehörigkeit zu einer der verbotenen Gruppen "Al-Djihad" oder "Gama al-Islamia" (Islamische Vereinigung) reicht für eine Verhaftung aus. Mit zahlreichen Todesurteilen, die ohne Gerichtsverfahren ausgesprochen werden können, soll die Terrorwelle gebremst werden. Menschenrechtsorganisationen klagen an, daß Geständnisse durch Folter erpreßt werden. Ob es dem ägyptischen Staat gelingen wird, die Gewalt mit dieser Form der Gegengewalt zu stoppen, bleibt fraglich.
Mubarak wirbt im Ausland für Ägypten als Reiseziel. Der westlichen Presse wirft er vor, die Anschläge hochzuspielen. Verglichen mit beispielsweise Florida sei die Gefahr sogar gering. Rein mathematisch gesehen mag die Wahrscheinlichkeit, in einen Gewaltakt verwickelt zu werden, nicht höher liegen als in vielen westlichen Ländern. Aber die Berichterstattung der Medien spielt bei der Auswahl des Urlaubszieles eine große Rolle und genau darauf zielen die Fundamentalisten ab.
Auch wenn die große Mehrheit des Volkes die Forderungen und das Vorgehen der Islamisten ablehnt, so bleibt zu befürchten, daß sich der Konflikt noch weiter verstärkt. Denn von den eigentlichen Ursachen sind viele Ägypter betroffen. Sie liegen, wie auch in Algerien, in erster Linie in der Armut und den Lebensumständen breiter Bevölkerungsschichten. Über die Hälfte aller Ägypter sind Bauern, "Fellachen", und der Großteil von ihnen lebt unter dem Existenzminimum. Insgesamt ist jeder vierte Ägypter arbeitslos und selbst Hochschulabsolventen finden nur schwer eine Stelle, die ihrer Ausbildung entspricht. So kommen die meisten in der unterbezahlten Verwaltung unter. Die Frustration in der Bevölkerung steigt und damit auch die Bereitschaft, eine der extremistischen Gruppen zu unterstützen.

Zum Frühstück treffen wir uns mit einem deutschen Ehepaar und ihrem kleinen Sohn in einem der zahlreichen Straßencafés. Sie berichten von der arabischen Kinderfreundlichkeit. Ihr Sohn müßte nur auf irgendwelche Leckereien schauen und schon bekäme er Unmengen geschenkt. Mitten im Erzählen ist er verschwunden. Wir entdecken ihn in einem Büro nebenan - er thront regelrecht hinter dem riesigen Schreibtisch. Einen Löffel in der Hand und eine Suppe vor sich, grinst er uns an. Ansonsten ist das Büro leer. Doch kurz später eilt ein Ägypter herein und reicht ihm ein Fladenbrot. Er meint, wenn der Junge schon seine Frühstückssuppe bekäme, dann gehöre auch Brot dazu. Abholen darf die Mutter ihn erst, als er aufgegessen hat.
Den Nachmittag verbringen wir am Strand, der hier zu den schönsten des ganzen Mittelmeeres gehört. Weiße Kalksteinfelsen begrenzen das Ufer - der feine weiße Sand und das klare türkisblaue Wasser sind ein Traum. Leider ist dieser Platz bei den Ägyptern ebenfalls sehr beliebt. Im Sommer fliehen sie aus dem heißen Kairo an das Meer. Die Verschmutzung mit Dosen und Plastikmüll zeugt noch jetzt von der Invasion, die hier jährlich stattfindet. Aber auch die großen und monotonen Feriensiedlungen sind nicht gerade eine Zierde für diesen Küstenabschnitt.
Unser nächstes Ziel ist die Oase Siwa, 300 Kilometer südlich von Marsa Matruh. Schnurgerade führt die Straße durch die Wüste. Sie wurde erst 1985 fertiggestellt. Bis dahin gab es nur eine Piste zur Küste und Siwa galt als "vergessene Oase". Erst seit 1991 ist es Ausländern erlaubt, die Oase ohne Genehmigung zu besuchen.

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Dienstag, 12.12.92
Nach einer Nacht in der Wüste erreichen wir am Vormittag den Steilabfall der Siwa-Senke. Das Becken ist etwa 150 Kilometer lang und zwischen 10 und 50 Kilometern breit. In den sieben Oasendörfern und dem Hauptort Siwa leben etwa 10 000 Menschen. Zum größten Teil sind es Berber, die sich mit Arabern und Sudanesen vermischt haben. Sie sprechen ihre eigene Sprache - Siwi, einen Berberdialekt. Arabisch ist hier eigentlich eine Fremdsprache.
Vom Rand des Steilhangs blicken wir auf den Hauptort und die darum gelegenen ausgedehnten Palmenhaine, die wie dichte Wälder wirken. Fast wie eine Fata Morgana erscheinen die großen Wasserflächen, die links und rechts von Siwa liegen. Die Oase liegt 24 Meter unter dem Meeresspiegel, was für die Bewohner Segen und Fluch zugleich bedeutet. So haben sie reichlich Grundwasser, aber es gibt keinen Abfluß wohin man die Abwässer leiten könnte. Daher sammelt es sich in den Senken zu Seen und verdunstet - die Seen werden zu Salzseen. Es darf keinesfalls mehr Grundwasser entnommen werden, als in den Seen verdunsten kann. Die Oase würde ansonsten in ihrem eigenen Abwasser ertrinken. Wegen diesen Schwierigkeiten kann in Siwa die landwirtschaftlich genutzte Fläche nicht vergrößert werden, auch wenn genügend Grundwasser dafür vorhanden wäre. Das starke Bevölkerungswachstum in der Oase bewirkt, daß man immer mehr auf Nahrungsmittelimporte angewiesen ist. Die Zeit, in der Siwa eine autarke Oase war, ist endgültig vorbei.
Im Ort angekommen, suchen wir uns seit langem mal wieder ein Hotel. Da der Tourismus hier noch in den Anfängen steckt, gibt es nur kleine und einfache Unterkünfte. In unserem Funduq, dem "Youssef" direkt am Marktplatz, kostet das Doppelzimmer gerade mal fünf Mark. Es ist noch fast neu und wir haben einen schönen Blick auf die Reste der alten Stadt "Shali". Sie wurde im 13. Jahrhundert aus Lehm und Palmenstämmen erbaut. Als Schutz vor räuberischen Beduinen umgaben die Bewohner ihre Stadt mit einer hohen Mauer. Dadurch war der Platz in der Siedlung begrenzt und man schaffte neuen Wohnraum, indem man in die Höhe baute. Es entstand ein komplexes Gebilde, das bis zu acht Stockwerke hoch war. Erst im letzten Jahrhundert fühlten die Menschen sich sicher genug, um auch außerhalb der Stadtmauer zu bauen. Heute ist Shali fast unbewohnt und verfällt langsam. Es existieren zwar Pläne, es als Touristenattraktion wieder aufzubauen, aber deren Durchführung ist aus Kostengründen äußerst fraglich.
Die Ruinen vermitteln trotz des Verfalls noch heute den Charakter eines wehrhaften, uneinnehmbaren Dorfes. Durch die löchrige Stadtmauer kann man bequem hinaufklettern und auf Entdeckungstour gehen. Von oben haben wir einen herrlichen Blick über das Dorf und die gesamte Oase. Hier können wir auch den Muezzin beobachten, der von der noch vollständig erhaltenen Lehmmoschee zum Nachmittagsgebet ruft. Einen Lautsprecher oder gar ein Tonband benutzt er noch nicht - live singt er gegen den elektrisch verstärkten Ruf des Muezzins der neuen Moschee an.
Im Zentrum des neuen Siwa ist der rasche Wandel, dem der Ort unterliegt, überall sichtbar. Häuser werden aus Beton gebaut, Vordächer aus Wellblech. Aus den Dächern ragen Betonpfeiler, um so die Möglichkeit einer späteren Aufstockung zu haben. Stromanschluß ist Standard und nur selten fehlt eine Fernsehantenne. Ob selbstgebastelt oder fertig gekauft - seit 1986 bringt sie Bilder aus dem Rest der Welt in die Wohnstuben. Damals legten sich innerhalb einer Woche über 1000 Familien einen Fernseher zu. Manche zahlen noch heute an den Raten. Mehr noch als der sich langsam entwickelnde Tourismus wecken westliche Filme und Werbung Konsumwünsche - eine Rückkehr zur autarken Lebensweise der Oasenbewohner ist auch daher ausgeschlossen. In den Läden Siwas gibt es alles, was auf dem Bildschirm angepriesen wird. Von der Nivea-Creme bis zur Pepsi werden alle diese Produkte über die neue Teerstraße herangeschafft. Sie hat das Leben in Siwa stark verändert. Nachdem bis in die siebziger Jahre der gesamte Warenhandel über die Karawanen der Beduinen lief, ist die Küste heute per Wagen bequem in vier Stunden zu erreichen.
Die Straße bringt auch verstärkt Touristen nach Siwa. Von einem Massentourismus kann zwar keine Rede sein, aber bei den wenigen Einwohnern machen sich auch die Individualreisenden deutlich bemerkbar. Es sind hauptsächlich jüngere Leute, die schon länger in Ägypten unterwegs sind. Für die Bewohner der Oase stellt der Tourismus eine wichtige zusätzliche Einnahmequelle dar. Eine Handvoll kleiner Hotels wurde eröffnet. Restaurants haben sich auf den Geschmack der Rucksackreisenden eingestellt und bieten auch Pizza, Lasagne und Pancake an. Daneben fehlen aber nicht die typischen ägyptischen Gerichte wie "Foul" (Brei aus braunen Bohnen), "Felafel" (frittierte Bällchen aus Kichererbsenpüree) und "Kushari" (Reis, Nudeln, Linsen und Röstzwiebeln mit einer scharfen Soße).
In einem solchen kleinen Lokal lernen wir auch das Ehepaar Leopoldo kennen. Sie leben bereits seit über zehn Jahren in ihrem Wohnmobil in Siwa. Leonardo Leopoldo ist Fotograf aus den USA, seine Frau Bettina ist Schweizerin und von Beruf Anthropologin. Sie spricht Siwi und engagiert sich besonders für die Situation der Frauen. Neben Büchern, die sie über die Lebensumstände der Frauen geschrieben hat, organisiert sie auch Vorträge und Ausstellung zur Kultur und den Traditionen in Siwa.
Die "Verbannung" der Frauen aus der Öffentlichkeit ist hier fast vollkommen. Wenn sie doch einmal zu sehen sind, so nur völlig verschleiert im traditionellen schwarzem "Malayah"-Gewand mit buntbestickten Rändern. Selbst die Hände werden mit Handschuhen gegen fremde Blicke geschützt. Lediglich ganz junge Mädchen sind unverschleiert. Sie sind bunt gekleidet und ihre Haare sind zu dünnen Zöpfen mit eingearbeiteten bunten Bändern geflochten. Eine so strenge Abschirmung wie die der Frauen in Siwa kann nicht mit Muhammads Vorstellungen und den Geboten des Qur'an begründet werden. Muhammads erste Frau Khadidja war selbst eine weltgewandte und erfolgreiche Karawanenbesitzerin und Kauffrau. Die Sure 24, Vers 31 sagt zur Verschleierung der Frau nichts Eindeutiges aus: "Und sagt den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Augen niederschlagen, und sie sollen darauf achten, daß ihre Scham bedeckt ist..., daß sie ihren Schal über den Schlitz des Kleides ziehen..." Sie wurde erst unter Muhammads Nachfolgern, den Kalifen, etwa ein Jahrhundert nach seinem Tod eingeführt. Allerdings geschah dies weniger in der Absicht den Frauen Fesseln anzulegen, sondern vielmehr um sie vor den gierigen Blicken und Nachstellungen der Männer zu schützen und um soziale Ungleichheiten zu verdecken. Vor Muhammad war es nichts Ungewöhnliches, wenn ein Mann eine Frau offen zur "Unzucht" aufforderte. Es war keine Ausnahme, daß ein Mann mehrere "Geliebte" hatte. Auch das heute bei uns als "Vielweiberei" angesehene Recht auf vier Ehefrauen bedeutete damals eine Beschränkung auf "nur" vier. Diese müssen laut Qur'an absolut gleich behandelt werden. Die meisten Gebote des Qur'an in Bezug auf die Frau wurden formuliert, um den Frauen damals Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Die Trennung in einen öffentlichen und einen privaten Lebensbereich und die dazugehörige Geschlechtertrennung sollte denselben Zweck erfüllen. Ob in der heutigen Zeit die Einhaltung dieser Gebote und der Tradionen in so strenger Form wie hier in Siwa noch genau den selben Sinn hat wie zu Muhammads Zeiten, bleibt für uns allerdings fraglich.
Bettina erzählt, daß sie plant, eine spezielle Krankenstation für Frauen aufzubauen. Viele Frauen weigern sich, zu einem männlichen Arzt zu gehen und viele Ehemänner verbieten es ihnen. Daher gibt es bei Geburten eine sehr hohe Todesrate. Aber dieses Projekt stößt in der Männerwelt auf harten Widerstand - Bettina erhielt sogar Morddrohungen. Ein weiteres Projekt organisiert und leitet den Verkauf von traditionellen Gegenständen an Touristen. Diejenigen Familien, die Schmuck oder selbstgenähte und bestickte Kleidung verkaufen wollen, können dies über ein Geschäft am Marktplatz tun. Dort führt der Ladeninhaber genau Buch über den Verkauf jedes einzelnen Stückes, und der Erlös wird nach festen Anteilen aufgeteilt. So haben viele Familien einen willkommenen Nebenverdienst, ohne jemals persönlich mit den Touristen in Kontakt zu kommen.
Auch sonst vermitteln die Leopoldos gerne zwischen Touristen und Einheimischen. Sie zeichnen Stadtpläne und sind an Gesprächen mit jedem Reisenden interessiert. Sie sind nicht völlig gegen den Tourismus in Siwa. Solange sich die Touristenzahl und deren Verhalten im entsprechenden Rahmen hält, versuchen sie, das Beste für die Siwaner daraus zu machen.

Vor dem Café, in dem wir frühstücken, fährt ein Tankwagen vor, und Kinder stehen Schlange, um für ihre Familien Wasser zu holen. Sie warten geduldig mit Eimern und alten Blechkanistern in der Hand, bis ihre Gefäße gefüllt werden. Der Tankwagen bringt Wasser aus einer salzarmen Quelle. Das Grundwasser in Siwa ist mit seinem extrem hohen Salzgehalt von bis zu zehn Gramm pro Liter nicht zum Trinken geeignet.
Wir mieten uns zwei Fahrräder, auch das ist neu und nur für die Touristen in Siwa. Es gibt hier keine Busse oder Taxis, sondern nur die "Karussahs" - Esel- und Pferdekarren mit alten Autorädern - holpern über die welligen Pisten. Auf unseren nahezu antiken, aber dafür schlaglochrobusten Vehikeln mit pofeinlichem Metallsattel, wollen wir zum höchsten Zeugenberg in der Gegend, dem Djebel Dakrour, radeln. Unterwegs grinst man oft über uns - besonders über Kirstin. Fahrradfahren gilt als "unschicklich" für eine Frau, wohl wegen der gespreizten Beinhaltung.
Als wir den Ort verlassen, wandelt sich die Straße zu einer löcherigen Piste. Die verstreut liegenden Häuser sind wieder aus Lehm gebaut, sie haben nur ein oder zwei kleine Fenster und eine Tür aus dickem Holz. Alle sehen unbewohnt aus und wir sehen noch nicht einmal die sonst allgegenwärtigen bunten Wäschestücke auf dem Dach. Die wenigen einheimischen Frauen, denen wir begegnen, verstecken sich, sobald sie uns erblickt haben.
Auf unserem Weg durch die ausgedehnten, schattigen Palmenhaine kommen wir immer wieder an einer der vielen Quellen vorbei. Ihre Zahl wird auf 200 geschätzt. Sie liefern das Wasser für die 300 000 Dattelpalmen in Siwa. "Sekhetam", "Palmland", hieß die Oase im alten Ägypten. Siwas Datteln sind seit jeher bekannt und begehrt wegen ihrer Spitzenqualität. Der Grund liegt in der extrem geringen Luftfeuchtigkeit. Wir erkennen außerdem noch Oliven-, Feigen-, Aprikosen- und Orangenbäume, und sogar Weintrauben gedeihen auf den bewässerten Feldern.
Als wir den Djebel Dakrour erreichen, sind wir von der Hitze zu erschöpft, um ihn noch zu besteigen. Die Piste ist zum Radeln viel zu sandig und notgedrungen müssen wir schieben. Das ist eben "Malesch" - "Schicksal". Es zu akzeptieren ist nach der ägyptischen Lebensphilosophie das Angenehmste. Aber schon bald bietet uns ein siebenjähriger Junge eine Mitfahrgelegenheit auf seinem Eselkarren an. Er hat vielleicht noch nie mit einem Ausländer geredet, trotzdem spricht er uns mit "Sadiq", "Freund", an. Doch leider trennen sich unsere Wege schon bald, und wir fahren ins Dorf zurück. Unseren nächsten Ausflug werden wir mit dem Bulli machen, denn bei der Ankunft im Hotel sind unsere Hintern wundgescheuert - malesch!
Am Abend gehen wir auf eine Party, zu der ein Besitzer eines Hotels alle Touristen eingeladen hat. Heute möchte er einen senegalesischen und eine dänische Botschaftsangestellte aus Kairo unterhalten, die in seinem Hotel gerade zwei Tage Ferien machen. Eine kleine Gruppe spielt traditionelle siwanische Musik. Dann legt der Hotelbesitzer eine wilde Mischung aus griechischem Sirtaki und türkischem Bauchtanz vor, die er mit Elementen des modernen Discostils anreichert. Einen Touristen nach dem anderen fordert er zum Mittanzen auf. Doch die einzigen, die sich mit ihm richtig messen können, sind seine Kinder: sein Sohn mit einem Samurai-Schwerttanz, für den ein Besenstiel herhalten muß, und seine Tochter mit einem gekonnten Bauchtanz. Die Familie ist koptisch, daher feiern Männer und Frauen zusammen. Wegen der ständigen unberechtigten Beschimpfungen, eine Prostituierte zu sein, würde die Tochter am liebsten aus Siwa wegziehen - so wie es alle anderen Kopten getan haben. Aber der Vater verdient mit seinem Hotel viel zu gut und daher werden sie bleiben - isoliert von den übrigen Siwanern.

Am nächsten Mittag fahren wir los, um uns ein wenig kulturgeschichtlich zu bilden. Ganz bescheiden wirkt die berühmte "Sonnenquelle" Kleopatras. In ein etwa 30 Meter durchmessendes, rundes Becken führen Stufen in das moderige Wasser. Man kann theoretisch darin baden, aber die Quelle liegt direkt an der Piste in das Dorf Aghurmi und es herrscht reger Eselkarrenverkehr. Es wäre besonders für Kirstin höchst unpassend, hier im Badeanzug herumzulaufen. Kleopatra hat nie persönlich in der Quelle gebadet. Aber in Ägypten wird alles, was alt ist und mit Frauen zu tun hat, gerne mit Kleopatra in Verbindung gebracht.
Knapp einen Kilometer weiter nördlich stehen die ebenfalls enttäuschenden Überreste des Tempels "Umm Ebeida", der vom Pharao Amasis in der 26. Dynastie (664 - 525 v. Chr.) zu Ehren des Gottes Amun erbaut wurde. Um so sehenswerter ist das alte Dorf Aghurmi, das nur etwa 500 Meter entfernt ist. Aber noch bevor wir das einzige Stadttor erreichen, entdecken uns die Kinder des neuen Dorfes nebenan. Bevor wir uns versehen, sind wir von ihnen umstellt. Mindestens 15 Münder schreien nach "Flüs" (Geld) und Bonbons und mindestens 30 Hände halten uns den Gegenwert entgegen: Armreifen, Ketten und Ringe aus Mutters Silberschatztruhe, bestickte Armbänder und Babykleider. Irgendwie ist es schade, daß der traditionelle Silberschmuck hier an Touristen verscherbelt wird, aber Silber gilt als nicht mehr zeitgemäß. Oft schmelzen es professionelle Händler ein, um dann daraus modernere Stücke zu fertigen. Die meisten Frauen bevorzugen heute Goldschmuck. Die Kinderhorde ist höchst aufdringlich und reagiert auf keine unserer Vertröstungsfloskeln wie "insha'allah ba'aden" (vielleicht später) weil "flüs fil funduq" (unser Geld ist im Hotel). Direkt "Nein" zu sagen, gilt als unhöflich. Wir müssen uns regelrecht zum Eingang des alten Dorfes durchkämpfen. Der wirkt wie eine magische Schranke, und die Kinder drehen um.
Es steht kein einziges Haus mehr im alten Aghurmi, nur ein paar verfallene Mauern und die Moschee deuten auf seine frühere Besiedlung hin. Die Ruine thront malerisch auf einem kleinen Hügel. Da sie vollständig mit einer hohen Mauer umgeben ist, wirkt sie wie eine Burg. Diesen Eindruck verstärkt das Minarett der Moschee, das wie ein Wehrturm in einer Ecke dem Verfall trotzt. Nur aus Lehm und Palmenstämmen erbaut, ragt es schief gegen den Himmel. Wir entdecken, daß die Eingangstür unverschlossen ist und wagen es, hinaufzuklettern. Dort stehen wir auf einer kleinen Plattform und hoffen, daß der Lehm unserem Gewicht standhält. Aber schnell läßt uns der atemberaubende Ausblick alle Angst vergessen: unter uns die Ruinen des Dorfes, im Westen der neue Ort und dahinter Siwa, im Süden unzählige Palmen und der Djebel Dakrour und im Osten glitzert der Aghurmisee silbern in der Sonne.
Schon lange vor diesen Bauten stand hier ein Tempel des Gottes Amun, angeblich auch sein Orakel. Alexander der Große zog nach der Gründung von Alexandria 331 v. Chr. in die Oase des Amun. Er verirrte sich in der Wüste und angeblich sandte Amun Regen und Vögel, die ihm den Weg zeigten und so sein Leben retteten. In Siwa angekommen, brachte Alexander dem Gott Opfergaben dar und befragte das Orakel. Es bestärkte ihn in seinem Glauben der Unbesiegbarkeit und in seiner Idee, Orient und Okzident zu verschmelzen.
Keine 200 Jahre zuvor hatte der Perserkönig Kambysis II. nach seiner Eroberung Ägyptens die "Ammuniter und die Oase verbrennen" wollen. Er sandte sein Heer, aber in einem Sandsturm starben alle 50 000 Soldaten. Kambysis trieb die Nachricht davon in den Wahnsinn, denn damit hatte sich eine Prophezeiung des Amunorakels erfüllt. Noch heute versucht man, Überreste dieses Heeres in der ägyptischen Wüste zu finden. Aber alle Expeditionen blieben bisher erfolglos.

An unserem dritten Tag in Siwa fahren wir zum Baden auf das "Fantasy Island". Es liegt vier Kilometer östlich des Ortes im "Birket Siwa", dem "Siwa-See". Im See kann man wegen seines hohen Salzgehaltes nicht baden, aber dafür in einer Quelle auf der kleinen Insel, die durch einen Damm mit dem Festland verbunden ist. Die Quelle ist eingemauert und liegt idyllisch inmitten von Palmen. Das Einzige, was das Badevergnügen trübt, sind die Schwärme von blutrünstigen Mücken. Seit ein paar Tagen hat ein geschäftstüchtiger Siwaner Stühle um die Quelle herum aufgestellt. Freundlich bietet er jedem Tee, Datteln oder eine Wasserpfeife an - seinen Sohn beauftragt er dann weniger freundlich mit der Zubereitung.
Der süße Geruch des Shisha-Tabaks wird uns demnächst noch öfter in der Nase liegen, denn Wasserpfeife zu rauchen, ist nirgendwo so beliebt wie in Ägypten. Man kann sie sich für 25 Piaster, etwa 15 Pfennige, in jedem Café bestellen und dann gemütlich "blubbern". Einen neuen Tonaufsatz mit frischem Tabak und glühenden Kohlen darauf kann man nachbestellen. In gewöhnlichen Straßencafés wird - entgegen vieler Vorurteile - nur Tabak ohne jegliche Drogen geraucht.

Auf dem Weg nach Marsa Matruh fängt es kurz vor der Küste an, in Strömen zu regnen, und in Marsa Matruh sind alle Straßen überflutet. Der Parkplatz der Tourist-Police gleicht einem See.

Mittwoch, 16.12.92
Fast die gesamte Strecke von 450 Kilometern bis nach Kairo regnet es weiter. Erst als wir auf die sogenannte "Wüstenautobahn" von Alexandria nach Kairo abbiegen, hört es auf.
Wir nehmen Kairo von Nordwesten in Angriff und können nicht an den Pyramiden von Gizeh vorbeifahren, ohne auf dem Besucherparkplatz Pause zu machen. Sie sind das letzte Weltwunder der Antike, das heute noch existiert. Allein die um 2550 v. Chr. erbaute Pyramide des Pharao Cheops sprengt alle Rekorde. Sie ist heute noch 137 Meter hoch (früher waren es einmal 146 Meter) und besteht aus über 2,4 Millionen Steinquadern auf einer Grundfläche von 230 mal 230 Metern. Jeder ist über 50 Zentner schwer, die im Inneren wiegen sogar bis zu 200 Tonnen. Es gibt keinerlei schriftliche Erklärungen, wie genau die Pyramiden errichtet wurden. Wie konnte diese Masse an Material ohne Rad, Wagen und Flaschenzug mit einer solchen mathematischen Präzision und ohne die Kenntnis des Satzes des Pythagoras verbaut werden? Ebenso erstaunlich ist es, wie der gesamte Bau organisiert wurde. Zur rechten Zeit mußte das passende Material in der ausreichenden Menge am richtigen Ort sein. Für den Transport der Blöcke bauten die Ägypter die erste gepflasterte Straße der Welt. Auf Schlitten mit Holzrollen darunter wurden die Steine gezogen und dann über den Nil verschifft.
Schätzungsweise bis zu 20 000 Arbeiter - von den Steinbrüchen im Landesinneren bis zur Baustelle in Gizeh - und viele ihrer Frauen und Kinder mußten mit Essen und Unterkünften versorgt werden. Nach dem neuesten Stand der Forschung waren es keine Sklaven, sondern Nilbauern. Ihnen kam die Verköstigung und Entlohnung während der Monate der Nilüberflutung, in denen sie sowieso arbeitslos waren, sehr gelegen. Viele halfen auch aus religiösem Eifer, um durch ihre Arbeit das Fortbestehen des ägyptischen Volkes sicherzustellen. Denn nur ein standesgemäßes Begräbnis ihres Pharao garantierte sein Weiterleben im Totenreich und daß er von dort weiter für das Wohl des Volkes sorgen konnte.
Eigentlich wollten wir in der Nähe der Pyramiden auf dem Campingplatz übernachten, aber die Leopoldos gaben uns den Tip, daß man dies auch gut im Zentrum auf dem Parkplatz des Nile Hilton Hotels tun könne. Da ich den Weg dorthin aus früheren Urlaubsreisen kenne, können wir uns besser auf den Verkehr um uns herum konzentrieren. Das ist lebenswichtig für jeden Neuankömmling, denn die Kairoer tun dies umso weniger. Blinker und Spiegel benutzen sie nicht, aber dafür lebhaft die Hupe und das Gaspedal. Soviel Krach wie möglich zu machen, scheint oberste Autofahrerpflicht zu sein - besonders im Stillstand. Da lehnt man sich minutenlang auf die Hupe und läßt den Motor zum Takt der überlaut aufgedrehten Radiomusik im Leerlauf aufheulen. Während der Fahrt wird jeder Zentimeter gnadenlos ausgenutzt, in die schwarze Abgaswolke hinter einem Auto drängt sofort das nächste. So etwas wie Sicherheitsabstand kennt hier keiner. Besonders gekonnt werden die zahlreichen Minibusse von Lücke zu Lücke gejagt. In die verbleibenden Zwischenräume drängeln sich die Mofas - dank ihrer Technik, sich überall durchzuquetschen, kommen sie am schnellsten voran. Inmitten dieser Blechlawine tauchen immer wieder völlig überladene Eselkarren auf. Die abgemagerten Tiere trotten trotz der Peitschenhiebe völlig reaktionslos dahin.
Für uns ist das oberste Gebot, stets bremsbereit zu sein, denn immer wieder versuchen Fußgänger im Laufschritt die Straße zu überqueren. Sie stoßen vor, hüpfen eine Spur weiter oder flüchten entnervt zurück zum Bürgersteig. Oft stehen sie auch unbeweglich mitten auf der Fahrbahn und warten gelassen auf die nächste Lücke. Neben der Einzelkämpfer-Strategie bietet die Taktik, sich in spontanen Gruppen zu solidarisieren, bessere Chancen, die andere Straßenseite ohne Gliederverlust zu erreichen. Die "Sharia" (Straße) al-Gizeh, auf der wir fahren, wäre in Deutschland wahrscheinlich dreispurig, hier sind es sechs. Ohne den geringsten Hinweis biegt unsere Spur auf eine Hochstraße ab. Sie sollen die Stadt vor dem endgültigen Verkehrskollaps retten. Aber weil es inzwischen auch auf ihnen zu eng ist, werden neue Hochhochstraßen darüber gebaut.
Nach über einer Stunde Fahrt haben wir die 15 Kilometer von den Pyramiden bis zum Nile Hilton Hotel geschafft. In der Straße zwischen dem Nobelhotel und dem weltberühmten Ägyptischen Museum stellen wir uns in eine Parkbox. Eigentlich gehört sie zum Hotel, aber die Parkplatzwächter sehen das nicht so eng, und auch die mit Maschinengewehren bewaffneten Wachen des Museums grüßen freundlich. Angst vor einem weiteren Autoknackversuch oder einen Überfall brauchen wir hier nicht zu haben. Und im Hilton gibt es die wohl saubersten öffentlichen Toiletten von Kairo.
Um uns herum liegen der Busbahnhof, das Ägyptische Museum, das Gebäude der Arabischen Liga, das Verwaltungsgebäude "Mogamma" und die Metrostation direkt am "Midan at-Tahrir", "dem Platz der Befreiung". Dieser Platz ist Kairos Verkehrsknotenpunkt und die wohl größte, hektischste und häßlichste Kreuzung Afrikas. Sieben Straßen zweigen von ihr ab, sie ist das Zentrum der Neustadt. Diese erstreckt sich mit zahlreichen Geschäften, Hotels, Kinos, Fast-Food-Restaurants, Obstsaftläden und Cafés zwischen dem Midan at-Tahrir, dem Midan Ataba und dem Hauptbahnhof am Midan Ramses.
Direkt vor unserer Tür fließt der Nil, der mit 6714 Kilometern Länge der längste Fluß der Erde ist. Er entspringt als Weißer Nil in Uganda westlich des Viktoria-Sees und vereinigt sich weiter nördlich mit dem aus dem äthiopischen Hochland kommenden Blauen Nil. Erst er erweckt Ägypten zum Leben - die restlichen 95 Prozent des Landes sind Wüste. Trotzdem sind mehr als die Hälfte aller Ägypter Bauern, "Fellachen". Sie machen sich das Nilwasser und seinen fruchtbaren Schlamm, den "Gef", seit über 4000 Jahren zu nutzen. Jedes Jahr brachte der Nil große Wassermassen aus dem Süden, überschwemmte das Land und ließ seinen Schlamm als natürlichen Dünger zurück. Um das Wasser auch auf höhergelegene Felder zu leiten, erfanden die Fellachen schon früh trickreiche Bewässerungstechniken. Mit Schöpfwippen oder archemedischen Schrauben wird das Nilwasser angehoben und durch Kanäle weitergeleitet. Seit dem Bau des Assuan-Staudammes an der Grenze zum Sudan in den 60er Jahren bleibt die Überflutung aus. Zwar können jetzt zwei oder sogar drei Ernten pro Jahr eingebracht werden und die Gefahr einer Überschwemmung ist gebannt. Aber es zeigen sich auch immer stärker die Nachteile des Milliardenprojektes: Der Boden muß künstlich gedüngt werden, der Salzgehalt steigt an und der Grundwasserspiegel hebt sich. Dies macht auch den zahlreichen antiken Bauwerken und Tempeln der Pharaonenzeit zu schaffen: Durch die Feuchtigkeit im Boden werden sie nach und nach zerstört.
Das Niltal wird so zu einem der ertragreichsten Gebiete der Erde und zur längsten Oase der Welt. Wegen der Überbevölkerung dieses schmalen Streifens - über 90 Prozent der Ägypter leben am Nil - ist der Lebensstandard der Fellachen jedoch sehr niedrig. Viele verlassen daher ihre Dörfer und suchen ihr Glück in Kairo.

Im modernen Teil Kairos spürt man nicht viel von der bunten und bewegten Geschichte der Stadt. Jede Epoche hat seine charakteristischen und grundverschiedenen Stadtteile und Bauwerke hervorgebracht. Dabei stand Kairo zweieinhalb Jahrtausende unter der Herrschaft von Ausländern. Die erste Siedlung auf dem heutigen Stadtgebiet war das Kastell "Babylon". Die Perser erbauten es, nachdem sie den letzten ägyptischen Pharao im Jahre 525 v. Chr. besiegt hatten. Doch in den folgenden Jahrhunderten, in denen Ägypten erst 332 v. Chr. von den Griechen unter Alexander dem Großen und ab 31 v. Chr. von den Römern erobert wurde, blieb Babylon eine unbedeutende Garnisonsstadt. Sie diente durch ihre Lage am Nil zur Versorgung der in Ägypten stationierten Legionen. Die Metropole und das geistige Zentrum war zu dieser Zeit Alexandria. In Babylon siedelten sich zunehmend Kopten an. Die Gründung dieser christlichen Gemeinde geht auf den Evangelisten Markus im Jahre 42 n. Chr. zurück. Die Kopten betrachten sich als direkte Nachkommen der Ägypter der Pharaonenzeit. Seit der Ausbreitung des Islam werden sie unterdrückt, und heute sind sie das Hauptangriffsziel der muslimisch-fundamentalistischen Terroranschläge. Auf dem Gebiet des ehemaligen Babylon befindet sich heute das größte koptische Wohnviertel Ägyptens. "Al-Qadima", "die Alte", wird es wegen seiner langen Geschichte genannt. Eine andere arabische Bezeichnung lautet "Qasr ash-Shama", die Festung der Kerze, was auf deren häufigen Gebrauch in den christlichen Kirchen zurückgeht. Hier stehen die ältesten Kirchen Kairos.
Kairos Aufschwung begann mit der Ausbreitung des Islam, als im Jahr 641 eine vom Kalifen Omar gesandte berittene Armee Ägypten eroberte. Nach ihm wurde die folgende Epoche der Omayyaden benannt. Die Invasoren erbauten östlich von Babylon eine neue Siedlung, "al-Fusat", "das Lager", mit bis zu zehnstöckigen Häusern und zahlreichen Moscheen. Diese Stadt entwickelte sich zu einem blühenden Handelszentrum und stellte Alexandria in den Schatten. Mit ihren 50 000 Einwohnern war sie noch vor Bagdad und Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, die größte Stadt dieser Zeit.
Bagdad war ab 750 n. Chr. Hauptstadt des Abbasidenreiches, das sich von Marokko bis Pakistan ausdehnte. Sein Herrscher, der Kalif von Bagdad, sandte im Jahr 750 den General as-Saleh Ibn Ali und 868 den Türken Ibn Tulun als Eroberer. Beide gründeten neben al-Fusat ihre eigenen Städte. Es waren reine Palaststädte, die dem Herrscher, seinen Ministern, und Dienern sowie seinem Harem vorbehalten waren. Ibn Tulun war auch der Erbauer der berühmten gleichnamigen Moschee im Süden der Altstadt. Sie umfaßt 26 318 Quadratmeter und ist eine der fünf größten Moscheen der Welt. Das besondere an ihr ist ihr strenges Quadratschema, bis hin zum Bau von Pfeilern statt den sonst üblichen Säulen. All diese Siedlungen zerfielen schon vor langer Zeit in Staub und Asche. Al-Fusat wurde 1168 niedergebrannt, da man die Stadt nicht in die Hände der anrückenden Kreuzritter fallen lassen wollte. Das Gebiet glich jahrhundertelang einer Müllkippe und erst in den 60er Jahren begann die Regierung, die heute dort stehenden "modernen" Wohnblöcke aufzubauen.
Dagegen hat das heutige islamische Viertel, die Altstadt von Kairo, mehr als tausend Jahre überdauert. Sie ist der Nachkomme von "al-Qahira", "die Siegreiche", einem von den Fatamiden errichteten Stadtteil. Die Fatamiden, so genannt, weil sie sich als Nachkommen von Muhammads Tochter Fatima betrachten, führten ab 969 in ganz Nordafrika den schiitischen Islam ein. Sie gründeten al-Qahira als Palaststadt mit 20 000 höfischen Gebäuden. Im elften Jahrhundert belief sich die Anzahl der Palastbewohner, einschließlich aller Beamten, Sklaven und Konkubinen, auf 30 000 Menschen, die in verschwenderischem Luxus lebten. Der Stadtteil entwickelte sich zu einer schillernden mittelalterlichen Metropole mit Palästen, Moscheen, Karawansereien und der "al-Azhar Universität". Heute ist "al-Qahira" der offizielle ägyptische Name für die ganze Metropole Kairo.
Beim Bummel durch das ockerfarbene Labyrinth stoßen wir auf zahlreiche Sehenswürdigkeiten aus der Vergangenheit des alten al-Qahira. Im Norden sind dies zum Beispiel die beiden mächtigen Stadttore "Bab al-Futuh" (Tor der Eroberungen) und das "Bab an-Naser" (Siegestor) sowie die Reste der alten Stadtmauer. Zwischen den beiden Toren steht die "al-Hakim Moschee". Al-Hakim bezeichnete sich selber als "Verkörperung Allahs" und war nicht gerade beliebt. Er kam 1021 auf mysteriöse Weise ums Leben, seiner Moschee erwies man nie Respekt. Sie diente im 12. Jahrhundert als Gefängnis für Kreuzritter, im 13. Jahrhundert als Stall, Napoleon nutzte sie als Militärlager und in den 60er Jahren war sie eine Grundschule.
Etwas weiter südlich steht "al-Azhar", "die Blühende" Moschee. 971 erbaut, war sie die Hauptmoschee von al-Qahira. Gegen ein Eintrittsgeld darf man sie besichtigen. Sie umfaßt eine Fläche von 11 300 Quadratmetern, hat fünf Minarette, 380 Säulen im Innenhof und einen Gebetssaal von 3000 Quadratmetern mit weiteren 140 Mamorsäulen. 18 Jahre nach dem Bau wurde in ihr eine islamische Universität mit einer theologischen und einer juristischen Fakultät eingerichtet. Mit Tunis und Fès streitet sie sich heute um den Titel der ältesten Universität der Welt. Erst 400 Jahre später wurde in Heidelberg die erste deutsche Universität eröffnet. Schon zur Zeit des Mittelalters forschten islamische Gelehrte auf den Gebieten der Mathematik, der Physik, der Geographie und der Medizin. Sie hatten damals einen Wissensstand, der in Europa erst viele Jahrhunderte später erreicht wurde. Im Gegensatz zum Christentum, wo die Kirche lange Zeit die Forschung behinderte, gab es zwischen Islam und Wissenschaft nie einen Gegensatz. Ein berühmter Spruch des Propheten besagt: "Suchet das Wissen, und sei es in China..." Der Qur'an fordert im der 13. Sure, daß man auch von anderen lernen solle: "Der Schaum vergeht, aber das Nützliche bleibt."
Heute bietet die Universität neben Theologie und Jura auch Geschichte, Biologie, Chemie, Mathematik und Geographie an. Die Studenten der Al-Azhar Universität kommen aus den verschiedensten islamischen Ländern. Von Nigeria bis Indonesien hat die religiöse Hochschule eine hohe Anziehungskraft. Die Bewerber werden schon in frühster Kindheit nach der Religiösität der Familie ausgewählt. Ausländische Studenten brauchen keine Gebühren zu zahlen und für die ärmeren gibt es Stipendien. Früher betrug die Studienzeit für ein theologisches Studium bis zu 15 Jahre und es war nicht fest geregelt, wann die Studenten Prüfungen abzulegen hatten. Heute ist der Studiengang einem festen Ablauf unterworfen und kann mit unterschiedlichen Abschlüssen beendet werden.
Bis heute ist al-Azhar das intellektuelle Zentrum der islamischen Welt, fast alle religiösen Grundsatzentscheidungen, die "Fatwas", kommen von hier. 1961 wurde Al-Azhar formell dem Rang der beiden anderen Kairoer Universitäten gleichgestellt und kurz darauf wurden auch Frauen zum Studium zugelassen. Die Regierung hat seitdem immer mehr Kontrolle auch über religiöse Angelegenheiten übernommen. Die Säkularisierung, die Trennung von religiösen und weltlichen Dingen, hat sich in der Regierung, im Erziehungswesen und im Gerichtssystem durchgesetzt. Die Kairoer "Ulema", der "Stand der Gelehrten", verlor so viel von ihrem Einfluß auf die Politik. Der "Shaikh", der Direktor der Al-Azhar Universität, unterstützt trotz dieser Spannungen die Politik der Regierung. Der Qur'an wird von ihm so interpretiert, daß er die offizielle Politik, beispielsweise der umstrittenen Frage der Geburtenkontrolle, unterstützt. Im Gegenzug akzeptiert und respektiert der Staat den Glauben und seine Führer. 1971 bestätigte die neue Verfassung den Islam als Staatsreligion. In religiösen Fragen dagegen stellt die Ulema noch immer die höchste Autorität der Sunniten in aller Welt dar. Traditonsverbundene Islamisten versuchen heute, auch den Einfluß auf die Politik wiederherzustellen, da es im Islam keine Trennung zwischen weltlichen und religiösen Dingen gibt. Sie kritisieren die Säkularisierung der Gesellschaft und die Ulema, die dies unterstützt. Die jüngsten Anschläge der Islamisten sind eine radikale Form dieser Kritik.
Zwei Jahrhunderte nach seiner Gründung durch die schiitischen Fatamiden wurde al-Azhar von dem syrisch-kurdischen Sultan Saleh ad-Din in ein Zentrum des orthodoxen Glaubens umgewandelt. Er ist besser bekannt als Saladin und sollte Ägypten vor der Invasion der christlichen Kreuzritter retten. Als 1171 der letzte fatamidische Kalif starb, ernannte er sich selbst zum Sultan und begründete die nur etwa hundert Jahre währende Dynastie der Ayyubiden. Er setzte die sunnitischen Glaubensgrundsätze durch, ließ sich im Süden der Stadt die massive Zitadelle als Residenz erbauen und öffnete al-Qahira für das einfache Volk.
Nach dem Tod des letzten Herrschers der Ayyubiden hatten die Mameluken von 1250 bis 1570 die Macht in Kairo. Das arabische Wort "mameluk", "der in Besitz genommene", gibt einen Hinweis auf ihre Herkunft. Es handelte sich um Sklaven, die im Kindesalter aus der Türkei, dem Kaukasus oder der Mongolei nach Ägypten verkauft und dort als Palastwächter ausgebildet wurden. Dieser Brauch hatte sich im neunten Jahrhundert in Bagdad entwickelt und war in der gesamten islamischen Welt verbreitet. Für ihre Dienste erhielten sie die Freiheit, Ländereien oder einen hohen Armeeposten. Sie entwickelten schon seit langem eine Art Staat im Staate und ergriffen 1250 endgültig die Macht. Die Mameluken vertrieben die Kreuzritter und die Mongolen. Das Mamelukenreich grenzte im Norden bis an die Osttürkei, Kairo wurde zu seiner Hauptstadt und zu einer der reichsten Handelsstädte der Welt. Insgesamt gab es 48 mamelukische Sultane, bei denen Machtkämpfe um Leben und Tod, Intrigen und Korruption an der Tagesordnung waren. Dennoch waren alle tief religiös. Sie ließen den Alkoholgenuß verbieten, Bordelle schließen und Dutzende von Medressen, Mausoleen (Grabmälern) und Moscheen erbauen. Am bekanntesten ist die "Sultan Hassan Moschee" in der südlichen Altstadt. Allein Sultan al-Malik an-Naser ließ 30 Moscheen erbauen und seine Vorgänger und Nachfolger waren nicht weniger prunksüchtig.
Ein mamelukischer Stallmeister namens Khalili stiftete um 1440 eine Karawanserei, die sich rasch zu Kairos wichtigstem Markt entwickelte. Da dort hauptsächlich persische Händler ihre Waren anboten, nannte man ihn "Khan al-Khalili Basar". Basar ist die persische Bezeichnung für den arabischen Begriff Souq. Heute ist dieser Markt die wohl größte Touristenfalle Kairos. Die Einheimischen kaufen hier nicht ein, was eindeutig gegen die minderwertige Qualität und den Kitsch spricht, der hier eifrigst an den Touristen gebracht wird. Authentischer als im Khan al-Khalili ist das Treiben im benachbarten Muski-Viertel und der Sharia Muski, über die auch der ägyptische Schriftsteller und Nobelpreisträger Nagib Mahfus schreibt. In ihrem Bau sah man vor 200 Jahren die Lösung aller Verkehrsprobleme, denn sie war so breit, daß zwei beladene Kamele aneinander vorbei paßten. Heute finden wir als Fußgänger kaum ein Durchkommen. Fliegende Händler belagern zu Hunderten die Straße und versuchen alles Mögliche, um die Aufmerksamkeit auf ihre Waren zu ziehen. Socken werden mit einem Megaphon angepriesen, Babystrampler, Porzellanengel, Haarbürsten oder BHs wandern unter lautstarken Preisangeboten an uns vorbei, und alle fünf Meter wechseln sich die voll aufgedrehten Kassettenrecorder mit der Beschallung der Straße ab.
1517 zog der Osmanensultan Selim I. in Kairo ein und zerschlug das Mamelukenreich. Kairo wurde zu einer Provinzhauptstadt zurückgestuft, da Konstantinopel Hauptstadt des Osmanenreiches war. Die Stadt verfiel wirtschaftlich und kulturell. Die eingesetzten Herrscher, die Paschas, regierten mit roher Gewalt. So hatten zum Beispiel Ali und Hassan Pascha (um das Jahr 1600) ihr besonderes "Vergnügen" daran, bei ihren Ausritten Menschen per Schwerthieb zu töten. Hassan brachte in einem Jahr angeblich 12 000 Untertanen um. Aber der Einfluß der Sultane aus dem fernen Istanbul schwand, und bald lag die eigentliche Macht wieder bei den Mamelukenfürsten. 1769 gipfelte dies darin, daß sie den osmanischen Pascha vertrieben und sich als unabhängig erklärten. Die Osmanen schickten den Hauptmann Mohammed Ali, der sich zunächst mit den Mameluken verbündete, um gegen die Angriffe der Engländer und Franzosen zu kämpfen. Nachdem diese das Land wieder verlassen hatten, holte Muhammad Ali 1811 zu einem endgültigen Schlag gegen die Mameluken aus, indem er sie alle zu einem Staatsbankett in die Zitadelle einlud. Er ließ die Tore schließen und alle Anwesenden niedermetzeln. Über 470 Fürsten wurden ermordet und ihre Paläste anschließend geplündert. Über Nacht hatte er so das jahrhunderte alte Feudalsystem abgeschafft, wofür ihm die Kairoer sehr dankbar waren.
Mohammed Ali setzte Landreformen ein, sorgte für ein besseres Bewässerungssystem und holte ausländische Berater ins Land. 1824 ließ er im Inneren der Zitadelle die "Alabastermoschee" - das heutige Wahrzeichen Kairos - erbauen. Nach seinem Tode im Jahre 1849 modernisierte sein Enkel Ismail Kairo zwischen der Altstadt und dem Nil nach westlichem Muster. Neue Straßen wurden gebaut, Gärten angelegt, das Opernhaus errichtet und außerdem der Bau des Suez-Kanals beendet. 1879 hatte er den Staat so stark verschuldet, daß er die Finanzhoheit an die Engländer und Franzosen abgab, die seit Anfang des 19. Jahrhunderts im Land präsent waren. Immer mehr Ausländer siedelten sich an, besonders nach der Ernennung Ägyptens als englisches Protektorat 1924. Sie gründeten ihre eigenen Stadtteile wie Zamalek oder Garden City und lebten dort als herrschende Elite ohne Verbindung zum Rest der Stadt. Die englische Vorherrschaft endete am 26. Juli 1952, als die nationalistische Revolution unter Oberst Abdel Nasser den amtierenden König Faruk und die Briten aus dem Land trieb. Ägypten wird nach über zweieinhalb Jahrtausenden wieder von Ägyptern beherrscht.

Im mittelalterlichen Kairo gab es keine Trennung der Wohnbereiche von Arm und Reich. In den schmalen Gassen lebten alle Schichten der städtischen Gesellschaft: Händler und Handwerker, Rechtsgelehrte und Künstler samt deren Personal. Die Stadtteile waren in sich geschlossene Einheiten zum Wohnen, Arbeiten und Einkaufen. Heute leben die 16 Millionen Kairoer separiert nach ihrem sozialen Status. Die Reichen in Stadtteilen wie Zamalek, Dokki, Maadi, Gezira oder Heliopolis mit viel Grün und relativ wenig Verkehr. Sie wohnen in alten, vollklimatisierten Stadtvillen oder in vornehmen Bürgerhäusern mit Monatsmieten, die den Jahresverdienst eines einfachen Arbeiters um ein Vielfaches übersteigen. Die Kinder werden von Bussen in die fremdsprachigen, ausländischen Privatschulen abgeholt und der Vater läßt sich im Mercedes, der mit 200 Prozent Einfuhrzoll importiert worden ist, zum Geschäftsessen oder zum Freizeitvergnügen auf den Golfplatz bei den Pyramiden fahren. Auch Kairos immer größer werdende Mittelschicht hat in diesen Vierteln ihre Appartements mit Zugang zum Sporting Club gemietet. Nur wer reich ist, kann der "Dausha" Kairos ausweichen. Dausha ist in der Umgangssprache ein Sammelbegriff für all die Unzulänglichkeiten des Kairoer Alltages: die beengten Wohnverhältnisse, das Verkehrschaos, die überfüllten Busse, den Lärm, den Dreck in der Luft, die Hitze und den Streit mit dem Nachbarn.
Aber der Großteil der Kairiner lebt mittendrin in dieser Dausha. Stadtteile wie Shubra, Bulaq oder die Altstadt sind hoffnungslos übervölkert. Hier wohnen die Familien auf engstem Raum, oft mit mehr als fünf Kindern in einem oder zwei Räumen. Die Häuser, zum Teil ohne Bad und Küche, sind verfallen und baufällig. Immer wieder stürzten überbelegte, mehrstöckige Wohnhäuser in sich zusammen, besonders wenn nicht abfließendes Abwasser die Grundmauern unterspült. Kaum ein Hausbesitzer kümmert sich um Instandsetzungsarbeiten, nicht zuletzt wegen der Mietpreisbindung aus König Faruks Zeiten. Kein Fremder würde in diese Viertel ziehen, frei werdende Betten oder Zimmer sind sofort an Verwandte oder Bekannte vergeben. Reicht der Wohnraum im Haus nicht aus, dann zieht man einfach in den Innenhof oder auf das Dach. In Kairo gibt es eine ganze "Dachwohnstadt" mit eigener "Dachsubkultur". Vom Minarett der "Muayad Moschee" in der Altstadt erkennen wir Zelte aus alten Planen, Bretterverschläge und sogar Ziegelbauten auf den umliegenden Dächern. Dazwischen spielende Kinder, Hühner, Ziegen, Schafe und Taubenschläge. Tauben dienen in ganz Ägypten als Bereicherung des Speiseplans. Alles ist grau, braun und dreckig, wie auf einem Sperrmüllhaufen. Bunt und sauber sind nur die frisch gewaschenen Wäschestücke an der Leine - man darf sie nur nicht zu lange hängen lassen, sonst werden sie von der Luftverschmutzung ebenfalls braun. Strom- und Wasserleitungen verzweigen sich wild, jeder zapft an, wovon er etwas braucht. Engpässe und Zusammenbrüche in der Strom- und Wasserversorgung sind alltäglich.
Im Gegensatz zu den reicheren Wohnvierteln sind diese Stadtteile gleichzeitig Wohn- und Arbeitsstätte und viele der Bewohner verlassen sie nur selten. Ein Markt ist am nächst größeren Platz, eine Grundschule und eine Moschee nur wenige Ecken weiter. In den Gassen herrscht ein ländlich geprägtes Bild, viele Bewohner sind Fellachen aus Oberägypten oder dem Niltal. Ziegen wühlen zusammen mit den Schafen in den Abfallbergen, Esel dösen im Schatten, Hunde kläffen Hühner an und Kinder bewerfen die Hunde mit Steinen. Besonders den älteren Frauen sieht man ihre ländliche Herkunft oft am schwarzen "Malabiya"-Tuchumhang und einem feinen Gazetschal über dem Kopf an. Die Männer tragen meist die "Galabiya", ein bodenlanges Baumwollgewand, im Sommer weiß, im Winter dunkelfarbig. Ihr Eingeständnis an die westliche Mode ist das Tragen eines Jacketts über der Galabiya. Wegen der vielen Abwasserpfützen haben sich gerade in diesen Vierteln die Plastiksandalen durchgesetzt.
Überall sind kleine Handwerksbetriebe angesiedelt, und da der Raum knapp ist, werden die Werkstätten und Warenlager oft nach draußen verlegt. In der südlichen Altstadt sehen wir in einem Gebiet überall "vergoldete" Polsterstühle im Stil Ludwig des XIV. am Rande der Gassen stehen. Diese Kopien sind ein beliebtes Statussymbol der Mittelschicht. Da importierte Waren und Rohstoffe knapp und teuer sind, Arbeitskräfte dagegen zahlreich und billig, stellen die Ägypter nahezu alles selber her. Dazu hat sich auch das Recyclingsystem zur Perfektion entwickelt. Es ist ein gutes Beispiel für die Eigenschaft der Kairoer, die alltäglichen Probleme mit unglaublichem Einfallsreichtum gemeinschaftlich zu lösen. Da es im den meisten Stadtteilen keine städtisch organisierte Müllabfuhr gibt, haben zwei Bevölkerungsgruppen dieses Problem privatwirtschaftlich gelöst. Es sind die aus den Oasen der libyschen Wüste immigrierten "Wahiyah" und die koptischen "Zabalin" aus Oberägypten. Die Wahiyah kaufen Müllsammelrechte von den Eigentümern der Mietshäuser und verlangen auch von den Bewohnern eine Gebühr. Die Zabalin, in Kairo über 50 000, kaufen die Konzessionen von den wahiyahischen Mittelsmännern ab und sorgen für die eigentliche Abfuhr. Jeden Morgen sehen wir sie, wie sie in kleinen Gruppen die Müllberge vor den Häusern in ihre Körbe schaufeln und auf Eselkarren entladen. Die Lebensfreude, die alle - auch die Kinder - bei dieser "Drecksarbeit" ausstrahlen, ist erstaunlich. Kinderarbeit ist in Ägypten zwar gesetzlich verboten, aber die gesamte Privatindustrie würde ohne die Mitarbeit der Kinder über Nacht zusammenbrechen. Den gesammelten Müll transportieren sie auf die Deponien am Rande der Stadt. Auf diesen "maqlab" leben die Zabalin in schäbigen, notdürftig zusammengezimmerten Hütten. Um sie herum türmen sich die von ihnen sortierten Berge aus Altpapier, Glas, Plastik, alten Kleidungsstücken und allem, was in irgendeiner Art verwertbar ist. Die Rohstoffe werden weiterverkauft und in den kleinen Handwerksbetrieben zu neuen Produkten verarbeitet. Aus Stoffresten werden Kissenfüllungen und Decken, aus Altmetall Töpfe oder Nieten, aus Knochen Farbe oder Leim gemacht. Alte Bretter werden zu billigen Möbeln oder sie dienen den Glasbläsern und Gießern als Brennstoff. Die organischen Abfälle verfüttern die Zabalin an ihre Schweine, deren Mist kompostieren sie zu Dünger. Als Christen brauchen sie sich nicht um das vom Qur'an vorgeschriebene Verbot des Schweinefleischverzehrs zu kümmern. Aus diesem Grund besitzen sie in der muslimischen Gesellschaft ein niedriges Ansehen. Dabei recyceln sie 80 Prozent des Kairoer Mülls und retten die Stadt vor dem Ersticken. Sich selbst sichern sie gerade mal ein Überleben im Elend.
Die Folgen der Überbevölkerung sind in Kairo überall sichtbar und keine Statistik weiß genau, ob noch 14 oder schon 18 Millionen Menschen hier leben. Dabei war die Infrastruktur einst für nur drei Millionen geplant. Extrem ist die Wohndichte im Slumviertel "Bab ash-Sharia", dem "Tor des Gesetzes", in dem statistisch 150 000 Menschen pro Quadratkilometer leben - dreimal so viel wie in den Slums von Kalkutta. Die Einwohnerzahl Kairos wächst jedes Jahr um 5 Prozent. Es scheint, als ob die Stadt zum ewigen Weiterwachsen verdammt sei - oder aber zum Platzen. Die Ursache ist einerseits die ungebremste Zuwanderung der Fellachen, andererseits die hohe Geburtenrate. Jedes Jahr wächst Ägyptens Bevölkerung um weitere eineinhalb Millionen Menschen. Die Regierung versucht vieles, um einen Rückgang der Geburtenzahlen zu erreichen. Beratungsstellen zur Familienplanung stehen jedem offen, Verhütungsmittel sind rezeptfrei und subventioniert (die Antibabypille kostet fünfzig Pfennige pro Monat), auf Plakaten und im Fernsehen wird für die Kleinfamilie geworben.
Zur Dezentralisierung des Stadtzentrums entstanden um Kairo riesige Satellitenstädte, mit glorreichen Namen wie "Sadat-" oder "Nasser-City" oder die "Stadt des zehnten Ramadan". Die Mieten sind für den Normalbürger viel zu hoch und der Weg zum Zentrum ist weit, so stehen viele der Wohnungen dort leer - insgesamt über eineinhalb Millionen. Viele dienen als Spekulationsobjekte der Reichen oder sie halten den Wohnraum für ihre Kinder und Enkel frei.
Über vier Millionen Pendler kommen jeden Tag aus den Vororten ins Zentrum, die meisten mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Wir empfinden Busfahren als ein besonderes Abenteuer. Es beginnt damit, daß man herausfinden muß, wo der Bus zu dem entsprechenden Ziel überhaupt abfährt. Kommt dort einer, dann steigen wir auf gut Glück hinten ein und fragen in die Menge, ob dieser Bus zu unserem gewünschten Ziel fährt. Oft erntet man die unterschiedlichsten Antworten und daher ist es besser, sich zum Kontrolleur durchzuschlagen und ihn zu fragen. Er antwortet, typisch ägyptisch, nicht mit "Aiwa", was "Ja" bedeuten würde, sondern mit "Insha'allah". Das heißt nicht etwa, daß er die Fahrtroute nicht kennt, aber letztendlich weiß doch nur Allah, ob wir am Ziel ankommen. Dann löst man entweder ein Ticket, was auf fast allen Strecken 25 Piaster kostet, oder macht sich ans Aussteigen, wenn die Richtung nicht stimmen sollte. Wahrscheinlich steht der Bus wegen Dauerstau sowieso noch an der Haltestelle. Kairos Busse sind immer und überall überfüllt, einen Sitzplatz zu bekommen ist fast aussichtslos und wir sind froh, nicht im Sommer in diesen Sardinenbüchsen zu fahren. In der Enge wird Kirstin oft unauffällig angemacht, was eine Art Volkssport der jungen Männer zu sein scheint. In so einer Situation hilft ein kleines mittellaut und entrüstet gesprochenes Zauberwort: "Aib". Es heißt "Schande" und blamiert den "Unhold" vor den anderen Mitfahrern. Ausgestiegen wird vorne, also muß man sich möglichst früh durch all die Menschen hindurchquetschen.
Für längere Strecken ist das nicht zu empfehlen. Eine gute Alternative sind die etwas teureren Minibusse. In ihnen bekommt jeder einen Sitzplatz und man hat die Chance, etwas von der Stadt zu sehen. Taxifahrten sind wegen des niedrigen Preises ebenfalls eine gute Möglichkeit der Fortbewegung. Die Taxameter sind bei Touristen zwar seltsamerweise immer "out of work", aber wenn man am Ende der Fahrt ohne große Verhandlungen genauso selbstsicher wie die Einheimischen einige Geldscheine überreicht, spart man Geld und Nerven. Die Fahrpreise, die das Taxameter berechnet, sind seit Mitte der achtziger Jahre vom Staat festgelegt und seither mit fünfzehn Pfennigen pro Kilometer unverändert. Auch Einheimische müssen daher einen höheren und realistischeren Preis von etwa fünfundzwanzig Pfennigen bezahlen.
In all dem chaotischen Verkehr ist die Metro, 1987 eröffnet und die einzige in Afrika, das schnellste und angenehmste Verkehrsmittel. Am leersten ist es in den Straßenbahnen, da sie so langsam sind, daß sie kaum jemand benutzt. In allen öffentlichen Verkehrsmitteln sind Bauchladen-Verkäufer mit ihrem Krims-Krams unterwegs. Sie versuchen lautstark ihre Kämme, Schnürsenkel, Sicherheitsnadeln, Scheren, Bleistifte oder Heftchen mit Qur'ansuren an die Fahrgäste zu verkaufen. Kinder versuchen oft mit dem Verkauf von Papiertaschentüchern das Familieneinkommen aufzubessern. Manche Linien gleichen eher einem rollenden Warenhaus, so vielfältig ist das Angebot. Einige haben eine besonders pfiffige Verkaufsstrategie entwickelt: Im Vorbeigehen werfen die Verkäufer ihre Ware ohne jegliche Vorwarnung jedem auf den Schoß. Hat jeder etwas, gehen sie zurück und sammeln alles wieder ein. Wer die Ware behalten will, bezahlt. Besonders die Süßigkeiten-Verkäufer verdienen gut mit dieser Strategie.
Diese Art des Überlebenskampfes beobachten wir überall in Kairo - mit kleinen Mitteln verdienen sich Millionen ihr Geld. Der alte Mann an der Ecke mit seiner Glaskaraffe Limonensaft für wenige Pfennige das Glas oder der Rolladenscharnierschmierer, der mit seinem Eimer Fett und einem Pinsel von Geschäft zu Geschäft geht oder die unzähligen Schuhputzer mit ihren bunten Polierflüssigkeiten. Die Not, einen Parkplatz zu finden, hat den Berufsstand der "Menadis" hervorgebracht. Sie sorgen in "ihrem" Revier dafür, daß möglichst eng geparkt wird. Steht man in der zweiten Reihe, so fährt er das Auto in die frei werdende Lücke, wofür er zuvor den Schlüssel bekommen hat. Gegen Aufpreis bewahrt er auf wundersame Weise Falschparker vor dem Abschleppen oder putzt die Scheiben. Es gibt Jobs, die einem auf den ersten Blick absolut überflüssig vorkommen: Fahrstuhlführer, Fahrstuhlmonteure, Fahrstuhldrahtseilschmierer, Fahrstuhltüraufhalter und einen Nachtwächter für den Fahrstuhl - im Extremfall arbeiten alle in einem Mietshaus. In den Cafés arbeitet oft eine Bedienung, einer zum Tischabwischen, einer zum Spülen und Teekochen, einer zum Shishas vorbereiten, einer der die Kohle für die Shishas anheizt und austeilt, einer zum Kassieren, einer zum Fegen nach Feierabend und natürlich ein Oberchef. All diese unterbeschäftigt wirkenden Leute sind nicht arbeitslos und brauchen nicht zu betteln. Wenn jeder in der Familie mithilft, dann summiert sich das zum Lebensunterhalt. Der unendliche Lebensmut und die Freude, die die Menschen trotz all der Dausha ausstrahlen, lassen all die Probleme verblassen. Das ist für uns das Faszinierende in dieser schrecklich-herrlich-chaotischen Stadt, die mit all ihren Gegensätzen zwischen den Zeiten schwebt.

Donnerstag, 24.12.92
Heiligabend. Wir lassen die Luft aus unserem aufblasbaren Plastiknikolaus, der auf unserem Lenkrad thront. Wir haben ihn vor ein paar Tagen im Souq erstanden, um wenigstens ein bißchen an Weihnachten erinnert zu werden. Die Muslime feiern Weihnachten natürlich nicht, auch wenn sie uns im modernen Teil Kairos ständig "Merry Christmas" wünschen.
In nordöstlicher Richtung fahren wir etwa zwölf Kilometern quer durch das Chaos Kairos auf die Autobahn nach Suez. Nach weiteren 130 Kilometern erreichen wir den Kanal, der nach zehn Jahren Bauzeit 1869 eröffnet wurde und das Mittelmeer mit dem Roten Meer verbindet. Wir passieren ihn unterirdisch durch den "Ahmed Hamdy-Tunnel", und nach wenigen Minuten sind wir auf der 60 000 Quadratkilometer großen Sinai-Halbinsel. Im Norden besteht sie zu zwei Dritteln aus Wüstenhochebenen, im Süden schließen sich Gebirgszüge mit über 2500 Meter hohen Bergen an. Eingegrenzt wird der dreieckförmige Sinai im Norden vom Mittelmeer und im Osten und Westen durch das Rote Meer. Es ist bis zu 2600 Meter tief und bietet durch seine warme Meeresströmung und die von Korallenriffen gesäumte Küste Tauchern und Schnorchlern ideale Tauchgründe.
Wir durchfahren die Halbinsel etwa in der Mitte auf der Straße nach Tabah. Die Landschaft ist öde, links und rechts ein paar struppige Büsche, im Hintergrund einige Hügelketten - drumherum Steine und Sand. Nachdem wir den Mitla-Paß überquert haben, ragt immer öfter rostiger Kriegsschrott aus dem Sand, manchmal sogar ganze Panzer. Hier war im Oktober 1973 der Hauptkampfplatz im letzten der ägyptisch-israelischen Kriege. Vorangegangen waren drei weitere: der erste 1948 direkt nach der Gründung des Staates Israel, 1956 der Suez-Krieg und 1967 der Sechs-Tage-Krieg. Im Sechs-Tage-Krieg überraschten die Israelis ihre arabischen Nachbarn mit einem Blitzangriff. Fast die gesamte ägyptische Luftwaffe wurde zerstört, noch bevor sie überhaupt den Boden verlassen konnte. Die Israelis besetzten die syrischen Golanhöhen, die jordanische Westbank und den ägyptischen Sinai. Der Suez-Kanal stellte die Grenze zwischen Ägypten und der israelisch besetzten Zone dar. Die Israelis sperrten ihn für die Schiffahrt, indem sie mehrere Schiffe in ihm versenkten. 1973 startete Ägypten unter der Führung von Präsident Sadat den Gegenangriff. Am israelischen Feiertag Jom Kippur griff Ägypten die israelischen Stellungen am Suez-Kanal an. Einige Kilometer weiter, hier am Mitla-Paß, kam der Angriff zum Stehen, und es entwickelte sich ein Stellungsgefecht. Die Überreste davon können wir heute noch im Wüstensand erkennen.
Für die Ägypter stellte dieser kleine Erfolg gegen die Israelis eine wichtige Stärkung des Selbstbewußtseins dar, denn zum ersten Mal hatte man eine kriegerische Auseinandersetzung gegen den Erzfeind gewonnen. Die Position Sadats war nun wesentlich verbessert, und er begann langwierige Friedensverhandlungen. Vielbeachteter Höhepunkt war dabei sicherlich seine Rede vor dem israelischen Parlament, der "Knesset". 1979 schließlich unterzeichneten Ägypten und Israel im amerikanischen Camp David einen Friedensvertrag. Die Ägypter erhielten zwar den gesamten Sinai zurück, wurden aber für diesen Separatfrieden von den anderen arabischen Staaten geächtet. Die diplomatischen Beziehungen wurden abgebrochen und Ägypten aus der Arabischen Liga ausgeschlossen. Erst mehr als zehn Jahre später akzeptierten die arabischen Staaten das Vorgehen Ägyptens und normalisierten das Verhältnis.
Der östliche Sinai steht seit seiner Rückgabe 1982 unter einem Sonderstatus: Er wird von internationalen Friedenstruppen kontrolliert, und ägyptisches Militär hat keinen Zutritt. Er ist damit der einzige Küstenabschnitt an dem auch über Nacht campiert werden darf. Alle anderen Küstengebiete sind über Nacht militärisches Sperrgebiet.

Ägypten Ägypten Ägypten

Zum Frühstück laden sich zwei Kamele bei uns ein. Ihre Vorderfüße sind zusammengebunden, damit sie nicht das Weite suchen können. Neugierig tippeln sie auf den Bulli zu und recken scheu ihren langen Hals zur Seitentür hinein. Voller Genuß verzehren sie unsere Frühstücksreste: zähes Fladenbrot, belegt mit Bananenschalen. Sogar unsere Teebeutel zermalmen sie andächtig. In so großer Zahl wie auf dem Sinai haben wir Kamele bisher nicht gesehen. In den Orten sieht man sie besonders oft mit dem Kopf tief in einer Mülltonne, und sie scheinen lieber mitten auf der Straße als auf dem steinigen Wüstenboden spazieren zu trotten - selbst wenn man ihnen laut hupend fast den Schwanz abfährt.
Nach weiteren 230 Kilometern wird es hinter an-Naqab schlagartig gebirgig. Von schwarzen Lavasträngen durchzogene und zu Phantasiegestalten skurril geformte Granitberge ragen immer höher in den Himmel und bilden enge Wadis. Das Spiel der Formen im wechselnden Licht und Schatten beeindruckt uns so sehr, daß wir in Schrittgeschwindigkeit fahren und immer wieder stoppen, um die grandiose Kulisse besser bewundern zu können. Die Straße windet sich hinunter zum Roten Meer, dessen tiefes Blau unsere Blicke anzieht. Nach Norden sind es nur zehn Kilometer bis zum ägyptisch-israelisch-jordanischen Grenzdreieck. Der ägyptisch-israelische Friedensvertrag erlaubt die gegenseitige Ein- und Ausreise, daher auch die vielen israelischen Touristen auf dem für sie preiswerten Sinai. Wir können diesen Grenzübergang jedoch nicht benutzen, da eine Weiterreise von Israel nach Jordanien wegen der politischen Lage nicht möglich ist. Daher bleibt nur die Fähre über das Rote Meer vom ägyptischen Nuweiba nach Aqaba in Jordanien.
Auch ein Abstecher nach Israel (der theoretisch möglich ist) und wieder nach Ägypten zurück kommt für uns nicht in Frage. Bei der Weiterreise nach Jordanien oder Syrien kann es passieren, daß einem wegen des Aufenthaltes im "feindlichen" Israel die Einreise verwehrt wird. Auch wenn man sich seinen israelischen Stempel nicht in den Paß, sondern auf ein separates Blatt geben läßt, erkennen die Jordanier oder Syrer am ägyptischen Stempel vom Grenzort Tabah, daß man in Israel gewesen sein muß.
Im Hafen von Nuweiba erfahren wir, daß es täglich eine Morgen- und eine Abendfähre in das 70 Kilometer entfernte Aqaba in Jordanien gibt. Südlich vom Hafen liegt die Beduinensiedlung "as-Sayaddin". Die Beduinen wohnen hier nicht mehr in Zelten, sondern in flachen Betonhäusern oder in einfachen Holz-, Blech- oder Schilfhütten. Nahezu überall steht ein Stall für Ziegen oder Schafe und ein Kamel dahinter. Auch wenn viele Beduinen heute auf einen Toyota umgesattelt haben, so wird niemand die scheinbar nutzlos gewordenen Tiere verkaufen. Ein Kamel bringt seinem Besitzer "Baraka", Glück und Segen, und es stellt ein Bindeglied zur alten nomadischen Lebensweise dar, denn mit ihm kann man jederzeit wieder in die Wüste zurück. Genausowenig würde ein seßhafter Beduine jemals auf die Mitgliedschaft zu seinem Stamm verzichten. Identität und Ehre hängen davon ab, ob und zu welchem man gehört. Nur als Stammesangehöriger hat er das traditionelle Recht, auf dessen Gebiet ein Zelt oder Haus aufzubauen, einen Brunnen zu bohren oder einen Garten anzulegen und seine Tiere zu weiden. Die Sinai-Beduinen bewirtschaften kleine Gärten, die genau wie die Tierhaltung und die Fischerei wirtschaftliche Sicherheit in Notzeiten versprechen.
Viele Beduinen arbeiten in den großen Städten oder in der Erdölindustrie an der Westküste. Sie tun dies nur vorübergehend als Gastarbeiter, denn kaum ein Beduine würde in die Stadt ziehen. Oft sind die Frauen allein mit Kindern und weiteren Familienangehörigen. Sie versorgen diese und das Vieh weiter wie gewohnt: entweder als Nomade in der Wüste oder seßhaft in den neuen Küstenorten. Dabei steht die Frau unter dem Schutz des Stammes. Verbrechen gegen die Ehre einer Frau werden strenger geahndet als Mord.
"Rizq", das "tägliche Brot", nennen die Beduinen seit Jahrhunderten ihre Tiere. Heute nennen sie auch Touristengruppen so, die mit Fotoapparaten "bewaffnet" aus dem Bus steigen. Es sind fast ausschließlich Tabarin-Beduinen, die sich ihr Brot mit dem Tourismus verdienen. Sie besitzen Camps, Shops oder Restaurants oder bieten Kamel- und Jeeptouren in die Berge an.
Das Rathaus von Nuweiba steht an einem symbolisch bemerkenswerten Platz: zwischen Moschee und Polizeistation. Hier arbeiten nur Beamte aus Kairo - der Versuch, Beduinen in die Verwaltung miteinzugliedern, scheiterte an den festen Arbeitszeiten. Seit der Rückgabe des Sinai an Ägypten 1982 lautet das politische Motto aus Kairo "Ägyptisierung des Sinai". Dazu gehören Projekte zum Aufbau der bescheidenen Infrastruktur wie die Erweiterung des Straßen- und Stromnetzes, der Schul- und Krankenhausbau, die Sicherung der Trinkwasserversorgung sowie die Entwicklung der Landwirtschaft, der Ölförderung, des Fischfanges und des Tourismus. Dies ist die Basis für die eigentliche Ägyptisierung: für den Aufbau eines ägyptischen Verwaltungsapparates, die feste Ansiedlung der Beduinen und die Umsiedlung von Fellachen aus dem Niltal.
Um die Beduinen seßhaft zu machen, stiftet die Regierung ihnen neue Häuser. Sie verlangt, daß der Boden auf dem viele selber ein Haus gebaut haben, nachträglich gekauft und registriert werden soll. Dabei war der Sinai bis zu dieser Bürokratisierungswelle unter den Stämmen gerecht aufgeteilt, privaten Bodenbesitz gab es nicht. Die Pflicht, sich jederzeit mit einem Personalausweis ausweisen zu können, empfinden viele schlichtweg als Beleidigung. Jeder weiß doch zu welchem Stamm der andere gehört, was soll ein Stück Papier schon dazu aussagen? Die verwaltungstechnischen Wünsche aus Kairo führen oft zu einem endlosen Verwirrspiel. Für Kinder besteht Grundschulpflicht, also sollen auch die Beduinenkinder diese besuchen, sofern sie in erreichbarer Entfernung ist. Zur Anmeldung benötigt man eine Geburtsurkunde, aber welcher Beduine hat sein Kind schon bei der Geburt registrieren lassen? Und für die nachträgliche Erstellung benötigt man eine Heiratsurkunde, die auch kaum jemand besitzt. Eine nachträgliche Erstellung der Heiratsurkunde ist schwierig, denn die Sinai-Beduinen lassen sich häufig scheiden, und heiraten ein zweites oder drittes Mal. Also müssen sich die leiblichen Eltern wiederfinden und eventuell scheiden lassen, um erneut zu heiraten und die entsprechenden Papiere zu erlangen. Die Stadtverwaltung stellt dann die Geburtsurkunde aus, das Kind kann eingeschult werden, und die Eltern lassen sich wieder scheiden.
Noch einschneidender sind die Pläne der Regierung, bis zu drei Millionen Menschen aus dem übervölkertem Niltal auf den Sinai umzusiedeln. Heute leben hier knapp 300 000 Menschen, fast ausschließlich Beduinen - wie soll auch nur eine weitere Million versorgt werden? Das Wasser ist schon jetzt knapp, besonders dort, wo Touristen sorglos kostbares Wasser verschwenden. Das Trinkwasser wird größtenteils von Suez in Pipelines oder per Tankwagen angeliefert, die wenigen Meerwasserentsalzungsanlagen produzieren nur mindere Qualität. Die Beduinen befürchten, durch all diese Ägyptisierungsmaßnahmen endgültig zu einer fremdbestimmten Minderheit in ihrem eigenen Land - denn das ist der Sinai für sie - zu werden.

Am Nachmittag verlassen wir Nuweiba, da wir versuchen wollen, mit unserem Bulli zum sogenannten "Coloured Canyon" zu fahren. Dazu geht es zunächst 28 Kilometer in Richtung an-Naqab. Bei dem Dorf Ain Furtega zweigt eine 13 Kilometer lange Piste in die Berge ab. Sie besteht aus weichem Schotter mit Sandfeldern und ist wild verzweigt, so daß wir nie wissen, welches der bessere Weg ist. Schließlich schaffen wir es ohne einsanden bis zu dem Plateau, hinter dem der Canyon liegt. Da es bald dunkel wird, kochen wir unser Weihnachtsessen: Felafel aus ägyptischem Instantpulver. Allerdings sind sie nicht gerade ein Gaumenschmaus und nur sehr bedingt weiterzuempfehlen.

Früh am Morgen steigen wir die Felswand zum Canyon hinunter und gelangen in ein enges Wadi mit sandfarbenen Felswänden. Je weiter wir gehen, desto höher werden sie. Nach einem breiteren Stück verschwindet diese Schlichtheit und sie werden schlagartig bunt. Sie zeigen die ganze Vielfalt einer Farbpalette: schwarz, purpurrot, rosarot, grau, dunkelbraun, gelbbraun und sogar violett. Manche Stellen sehen aus wie eine Holzmaserung, andere wie rotbraune Rosen, wieder andere wie eine Sanddünen- oder Berglandschaft. Es ist wie in einem Museum mit einer Sammlung von abstrakten Gemälden: Es gibt immer wieder etwas Neues in ihnen zu entdecken. Diese Farbenspiele können nur hier unten in der immer schattigen Schlucht überleben, in der Sonne wären sie genauso ausgeblichen wie die Felsen um sie herum. Das Wadi windet sich in engen Schlangenlinien zu einem weiten Talkessel. Hier ist der eigentliche Coloured Canyon nach knapp einem Kilometer schon zu Ende. Wir gehen das letzte Stück noch einmal. In dieser Richtung ist es schwieriger, weil heruntergefallene Felsbrocken nur mit Klettern zu überwinden sind.
Den weiteren Nachmittag und den ganzen nächsten Tag wandern wir durch diese wild-romantische Landschaft und entdecken weitere kleinere Schluchten mit bunten Wänden, sowie ein wunderschönes Tal voller Akazien, die mit ihren langen Wurzeln selbst in den trockensten Wüsten noch Wasser finden.

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Sonntag, 27.12.92
Gegen Mittag verlassen wir den Canyon. Jetzt bei senkrechtem Sonnenlicht wirkt die schattenlose Bergkulisse an der Teerstraße nach Nuweiba noch viel gewaltiger als vor zwei Tagen spätnachmittags. Nachdem wir in Nuweiba eingekauft haben, fahren wir in das 20 Kilometer nördlich gelegene "Basata Camp". Es besteht aus einfachen, mit Teppichen ausgelegten Strohhütten am Strand, einer gemütlichen Aufenthaltshütte, einer Gemeinschaftsküche und einem Waschhaus. Das Prinzip hier beruht auf Selbstversorgung: Obst, Gemüse, Eier, Konserven, Tee und anderes kann man sich selber nehmen, auf seine Rechnung schreiben und zubereiten. Man kann sich auch Brot, Kuchen und Pizza kaufen oder abends am Gemeinschaftsessen teilnehmen. Wir bleiben die nächsten fünf Tage hier und verbringen sie mit Sonnen, Großputz und Motorcheck.

Am Neujahrsmorgen fahren wir ins Landesinnere in Richtung Katharinenkloster. Unterwegs machen wir einen Abstecher in das Wadi Arada mit seinen Schluchten. Die Einfahrt finden wir selbst nach mehrmaligem Abfahren der Straße nicht. Wir geben die Suche nicht so schnell auf und werden tatsächlich fündig. Allerdings 10 Kilometer vom im Reiseführer angegebenen Ort entfernt. Die Piste besteht aus purem Sand, und wir lassen das Auto stehen - hier zu Fuß zu gehen, ist sowieso schöner. Am Wadieingang hat eine Beduinenfamilie ihr Zelt aufgestellt. Die Kinder kommen auf uns zugelaufen, bieten sich als Wächter für den Bulli an und laden uns zum Tee ein. Wir verschieben die Einladung auf später.
Die ersten Kilometer ist das Wadi noch breit und sandig. Dann zweigen links zwei parallele Seitenarme ab. Der südliche heißt "Arada as-Seghir", "das kleine", und das nördliche "Arada al-Kebir", "das große" Wadi. Wir starten durch das Wadi al-Kebir. Die Felsen sind fast weiß, die Schlucht wird immer enger und windet sich auf ein Plateau aus schwarzen Basaltsteinen hinauf. Es ist übersät mit bizarren kleinen Gesteinsbrocken. Dort entdecken wir in einem Steilabfall eine schulterenge, schornsteinartige Schlucht. Die Wände ragen 15 Meter hoch senkrecht in den Himmel, dessen Blau man nur durch eine winzige Öffnung sehen kann. Sie sind von den seltenen Wasserwirbeln spiralförmig ausgehöhlt, und wir staunen über das langanhaltende Echo, das sie zurückhallen lassen.
Zurück wandern wir durch das Wadi as-Seghir. Es liegt unter dem schwarzen Plateau, und der Abstieg an einer schroffen Felswand ist anscheinend die einzige Möglichkeit, dorthin zu gelangen. Das Wadi ist so eng, daß wir uns stellenweise quer durchquetschen müssen. Es ist wie ein Tunnel, denn oft ist das schmale Stückchen Himmel über uns mit dicken Geröllbrocken zugeschüttet. Manchmal müssen wir über diese glatten Brocken hinüberklettern - beziehungsweise hinunterrutschen, und ein anderes Mal ist nur noch ein kleines Loch zum Durchklettern frei. Die Schluchten sind genauso faszinierend wie der Coloured Canyon und allemal die mühsamen sechs Kilometer An- und Abmarsch durch den tiefen Sand wert.
Am Zelt winken die Beduinenfrauen schon mit der Teekanne, und wir setzen uns zu ihnen. Sie, die Kinder und die Ziegen sind die einzigen hier, die Männer arbeiten in einer Erdölraffinerie. Das Wasser, mit dem die Kanne und die Gläser ausgespült werden, wird den Ziegen zum Trinken hingestellt. Es gibt hier keinen Brunnen, das Wasser wird mit einem Tankwagen angeliefert und in gelbe Plastikkanister mit einer Shell-Muschel darauf gefüllt. Gerade hupt an der Straße ein LKW, der mit Gemüse, Kleidung und sonstigen Sachen des täglichen Bedarfes beladen ist - eine Art rollender Tante-Emma-Laden für Beduinen. Während wir am Feuer warten, bis das Wasser heiß ist, geht eine Frau einen halben Sack Mehl zum Brotbacken kaufen. Fladenbrot ist anscheinend nicht nur die Hauptnahrung der Menschen, auch die Ziegen bekommen es zu fressen. Sie bedienen sich sogar selber und werden nicht daran gehindert. Die Teerunde ist nur kurz, denn es wurde nur wenig gekocht. Jetzt erst bieten uns die Frauen schüchtern Schmuck aus bunten Plastikperlen zum Kaufen an. Hier, wo sich ab und zu Touristen ins Wadi verirren, ist auch ohne Brunnen ein guter Lagerplatz. Manchmal gelingt es ihnen, durch den Verkauf etwas Geld zu verdienen oder sie bekommen wie von uns Geschenke als Gegenleistung für den Tee - nützliche Kleinigkeiten wie Seife, Pflaster, Aspirin, Kaffee oder Tee.

Am Spätnachmittag fahren wir die letzten 50 Kilometer zum Katharinenkloster. In dem reizlosen Ort Milga, der direkt beim Kloster liegt, sind die meisten Touristen nur einen Tag lang, um sich das Katharinenkloster anzusehen oder den Mosesberg zu besteigen. Alle Arten von Touristen treffen sich hier, entsprechend gefächert sind die Übernachtungsmöglichkeiten: vom Luxushotel mit Hubschrauberlandeplatz über einfache Camps bis hin zum Open-Air Schlafplatz auf dem Mosesberg.
Das Katharinenkloster liegt auf einer Hochebene in fast 1500 Meter Höhe. Bereits im vierten Jahrhundert haben hier christliche Einsiedler gelebt. Kaiser Justinian gründete es im Jahr 527, um die Gläubigen vor den Überfällen der Beduinen zu beschützen. So erklärt sich der festungsartige Charakter und die zehn bis zwölf Meter hohen Wehrmauern. In der Zeit der islamischen Eroberung rettete ein Schutzbrief des Propheten das Katharinenkloster vor der Zerstörung. Neben der Kirche wurde eine Moschee für durchreisende Muslime erbaut. Es ist weltweit die einzige Moschee in einer Klosteranlage. Heute leben hier etwa 30 Mönche, die sich zum griechisch-orthodoxen Glauben bekennen.
Im Kloster wächst auch ein Ableger des biblischen Dornenbusches, der zwar brannte, aber nicht verbrannte, als aus ihm heraus Gott dem Moses erschien und ihn beauftragte, mit dem Volk der Israeliten ins Gelobte Land zu ziehen. Der damalige Pharao Ramses ordnete an, daß alle neugeborenen hebräischen Sklaven getötet werden sollten, da diese sich zu stark vermehrten. Aber Moses überlebte, weil ihn seine Mutter aussetzte und er bei einer Pharaonentochter aufwuchs. Als Erwachsener erschlug er einen ägyptischen Aufseher, weil dieser einen hebräischen Sklaven auspeitschte. Moses floh auf den Sinai und fand dort Jahre später seine Frau, deren Vater ein Stammesführer der Beduinen war.
Moses führte die 12 Stämme der Israeliten in einem einjährigen Marsch vom ägyptischen Festland östlich von Kairo zum Djebel Musa. Hier nahm er die zehn Gebote Gottes entgegen, die die Basis der drei großen monotheistischen Weltreligionen bilden. Dazu soll er fünfmal auf dem Gipfel gewesen sein, zweimal sogar 40 Tage lang. Nach weiteren 40 Jahren erreichte die zweite Generation durch die Wüste Negev und Jordanien das gelobte Land in Jericho.
Der Mosesberg ist nicht nur den Christen und Juden heilig, sondern auch den Muslimen. Muhammads Pferd, das den Propheten von Jerusalem gen Himmel brachte, soll hier mit einem letzten Huftritt Schwung für die Auffahrt geholt haben. Einer alten Beduinenlegende nach stieg das Kamel ihres wichtigsten Heiligen, Nabi Salih, vom Mosesberg aus in den Himmel. Seine vier Füße berührten dabei gleichzeitig noch Kairo, Damaskus und Mekka. Nabi Salih ist den Beduinen heilig, weil er eine trächtige Kamelstute aus einem Felsen befreite. Die Beduinen verehren auf gleichem Rang auch Moses, hatte er es der Legende nach doch geschafft, kostbares Wasser aus einem Felsen zu schlagen. Im Islam gibt es zwei Typen von Propheten. Der Nabi hat göttliche Eingebungen, aber nicht den Auftrag, diese an die Menschen weiterzugeben. Muhammad war ein "rasul", ein "Gesandter", der die göttlichen Botschaften an sein Volk vermitteln soll. Die Zahl der Propheten, die die Muslime verehren, wird auf über 125 000 geschätzt.
Auch wir wollen hinauf zum Gipfel des heiligen Berges, wozu es zwei Wege gibt. Unseren Entschluß, den Treppenweg für den Aufstieg zu wählen, bereuen wir schnell, denn er besteht aus - angeblich - 6666 Stufen. Ein Mönch hat den gesamten Weg zur Erfüllung eines Gelübtes eigenhändig angelegt. Auf mindestens 1111 Stufen legen wir ein Päuschen ein, die restlichen verwünscht Kirstin mit lautstarken Flüchen. Aber die Aussicht vom 2285 Meter hohen Gipfel belohnt unsere Kletterstrapazen. Die Luft ist glasklar, und so können wir nach Süden über die endlosen Bergspitzen hinweg das Rote Meer sehen. Der 2640 Meter hohe Katharinenberg direkt im Süden ist der höchste Berg Ägyptens. Hinunter gehen wir auf dem "Pfad des Moses", einem Serpentinenweg durch Geröllhalden. Er ist lange nicht so schön wie der Treppenweg, nicht zuletzt weil reger Betrieb herrscht. Hunderte von verschwitzten und genervten Gipfelstürmern fragen uns, wie weit es denn noch ist. Dazwischen trotten gemächlich Kamele hinter ihren Beduinenführer her, und die darauf reitenden Touristen sehen von der Schaukelei reichlich seekrank aus. Wir sind in weniger als einer Stunde wieder am Kloster. Leider können wir es nicht mehr besichtigen, da es nur vormittags geöffnet ist.
Am Ortsausgang wundern wir uns über die wohl protzigste und gleichzeitig unwichtigste Kreuzung Ägyptens. Obwohl hier kaum Verkehr ist, hat sie die Ausmaße eines Knotenpunktes zweier Hauptstraßen. Repräsentation ist eben alles - auch wenn der Zweck fragwürdig ist. Kurz bevor wir die Straße nach Nuweiba erreichen, biegen wir neben dem weißen Kuppelgrabmal des Nabi Salih auf eine Piste ab. Sie führt nach fünf Kilometern in das "Tal der blauen Berge". Hier hat der belgische "Künstler" Jean Verame sein Werk "Peace Junction" erschaffen. Er bemalte dazu zahlreiche Felsbrocken mit blauer Farbe - zehn Tonnen soll er dafür verbraucht haben. Wir zweifeln am Sinn und der Umweltverträglichkeit dieses Werkes.
In diesem Tal beginnt eine 90 Kilometer lange Piste nach Dahab am Roten Meer. Wir wissen nichts Eindeutiges über ihren Zustand und stecken schon nach wenigen Metern in einem Sandfeld fest. Beduinen eilen herbei, um zu helfen. Mit vereinten Kräften, fleißigem Graben und einer Vollgasfahrt erreichen wir festen Untergrund. Die Beduinen raten uns von dieser Piste ab, und da wir keine Lust auf weiteres Sandbuddeln haben, kehren wir zur Teerstraße zurück. Die schroffen Felsen glühen im orangen Licht der untergehenden Sonne. 

Wir erreichen die Küstenoase "Dahab" (Gold) am Abend und sind nach all der Einsamkeit und Ruhe der letzten Tage zunächst leicht geschockt von dem Rummel hier. Es reihen sich Restaurants, Shops und Camps in einer unglaublichen Anhäufung aneinander. Ich war vor vier Jahren schon einmal hier und erkenne den Ort kaum wieder, nicht zuletzt weil der ohnehin schon schmale Strandstreifen heute total zugebaut ist. Wir finden ein Camp, wo der Bulli unter Palmen am Meer stehen darf. Die einfachen Zimmer in diesen Camps kosten nicht mehr als vier bis fünf Mark pro Nacht.
Dahab hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Einige der Änderungen sind deutlich sichtbar, andere weniger. Es fällt sofort ins Auge, daß fast alle Gebäude neu sind. Vor ungefähr zehn Jahren hat der Tourismus hier begonnen, indem Beduinen einfache Strohhüten an Rucksackreisende vermietet haben. Der Ort wurde schnell zum Insidertreff und erfreute sich wachsender Beliebtheit. Im Laufe der Jahre wurde die ganze Bucht mit Restaurants, Cafés und Camps im einfachen Stil bebaut. Bis vor zwei Jahren gab es keinen elektrischen Strom, was aber wesentlich zur besonderen Atmosphäre Dahabs beigetragen hatte. Jetzt ist alles hell erleuchtet und aus allen Cafés dröhnt laute Reggaemusik. Nur an einem Abend, an dem in der ganzen Bucht der Strom ausfällt, erinnern die Ruhe und die vielen kerzenbeleuchteten Tische entlang der Bucht an früher.
Die anderen Veränderungen betreffen das Leben der Beduinen hier. Die Mädchen, die am Strand Muscheln, selbstgenähte Hosen oder geflochtene Armbänder verkaufen, wachsen in zwei verschiedenen Welten auf. Sie sprechen schon recht gut Englisch, können aber zum Teil noch nicht einmal ihren Namen auf Arabisch schreiben, da nicht zur Schule gehen. Am Strand albern sie mit den halbnackten Touristen herum, aber zu Hause müssen sie sich noch nach den alten Traditionen verhalten. Ein Mädchen erklärt uns, sie wolle und dürfe keinen Badeanzug anziehen, und wenn sie älter sei, dann müsse sie sich verschleiern. Auch im Leben der (männlichen) Erwachsenen vermischen sich die beiden Kulturen: Zu ihren Galabiyas tragen sie moderne Turnschuhe; sie hören gerne Rockmusik, aber sie singen weiterhin ihre alten Lieder. Trotz all der neuen Einflüsse wollen sie nicht auf ihre eigene Kultur verzichten.
Viele, die hier leben und arbeiten, sind aber keine Beduinen. Sie kommen aus Kairo, um der dortigen Arbeitslosigkeit zu entgehen und hier ein lockereres Leben zu führen. Der Großteil der Camps und Cafés gehört geschäftstüchtigen Leuten aus der Hauptstadt, die den Boom in Dahab erkannt haben und hier investieren.

Freitag, 08.01.93
Es ist der erste Tag seit einer Woche, an dem wieder die Sonne scheint, und wir sind etwas traurig, den Sinai und seine Bergwelt verlassen zu müssen. Aber unsere Autopapiere und Visa laufen heute ab und man kann sie nur in Kairo verlängern lassen. Andererseits sind wir neugierig auf Jordanien, besonders auf die geheimnisvolle Nabatäerstadt Petra.
Die Fähre von Nuweiba nach Aqaba soll um acht Uhr am Abend ablegen. Die Tickets kosten 25 US-Dollar pro Person und 167 Dollar für den Bulli und können nur bar in Dollar bezahlt werden. Die ägyptischen Ausreiseformalitäten erfolgen vor der Auffahrt auf die Fähre. Bei der Einfahrt fragt ein Zöllner "Whose car?" und Kirstin antwortet "My car". Bei der folgenden Kontrolle, ob alle Papiere vollständig sind, fragen andere Zöllner "You are Miss Mycar?". Über unser Lachen wundern sie sich zunächst, aber nach der Aufklärung des Übersetzungsfehlers lachen sie mit. Einer von ihnen wird angewiesen, uns durch den folgenden Dschungel der Bürokratie zu führen. Wir gehen von einem Büro in das nächste, und nach dem achten hören wir auf, sie zu zählen. Überall werden wir vorgelassen, und überall erzählt unser Begleiter die Anekdote der "Miss Mycar". Nach eineinhalb Stunden sind wir fertig und müssen warten, bis wir um Mitternacht endlich auf die Fähre fahren dürfen. Mit einem Aufzug wird der Bulli unter Deck gebracht und millimetergenau eingeparkt. Er steht hinter einem Jeep aus Saudi-Arabien, auf dessen Rücksitz sieben Jagdfalken sitzen. Sie sind noch vor Rennkamelen, Pferden, Luxusautos, Villen und Jachten das Statussymbol der Reichen auf der Arabischen Halbinsel. Eigentlich haben wir gehofft, bequem in unserem Bullibett schlafen zu können, aber ein Arbeiter weist jeden aus dem Laderaum hinauf an Deck. Dort müssen wir uns die Nacht in gnadenlos unbequemen Plastikschalensitzen unter Dauerbeschallung mit arabischen Liebesliedern um die Ohren schlagen. Erst um zwei Uhr legt die Fähre ab, und nach weiteren viereinhalb Stunden erreichen wir Aqaba - ahlan wa sahlan Jordanien!


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