Teil 3: Tunesien
  

Tunesien Tunesien

   
Zwischen Tradition und Moderne - Tunesien

  
Auf tunesischer Seite dagegen geht die Abfertigung nicht ganz so glatt. Zwar sind die Einreisebedingungen sehr locker, dafür müssen wir aber eine Devisenerklärung anfertigen. Der Zöllner scheint das Formular zum ersten Mal auszufüllen, jedenfalls dauert es ewig. Er zählt alles genau nach, selbst unser Bündel mit einzelnen Dollarnoten, und verrechnet sich dabei etliche Male. Am Ende stimmt die Deklaration einigermaßen. Der Sinn des Ganzen ist allerdings fragwürdig, da es in Tunesien keinen Schwarzmarkt gibt, man überall Geld tauschen kann und bei der Ausreise keiner nach Belegen fragt.
Dann wird der offensichtlich gerade erst von der Schule kommende Zöllnernachwuchs ins Rennen geschickt. Er darf wohl zum ersten Mal ein Touristenauto durchsuchen. Da der Kampf mit der Deklaration noch nicht ganz beendet ist, geht Kirstin schon mal mit ihm vor. Kurz darauf ist sie der Verzweiflung nahe: Der Grenzer begutachtet einfach alles. Vor unserer weißen Schokolade aus Marokko steht er völlig fassungslos. Er will nicht so recht glauben, daß es wirklich Schokolade ist, bis er sie nach einigem Überreden schließlich skeptisch probiert. Auch Semmelknödel und Müsli sind schwer zu erklären. Wir ändern die Taktik: Von kommentarlosem Gewährenlassen steigen wir um auf Einmischen. Ab sofort sagen wir ihm bei jeder Kiste, dort sei sowieso nur Proviant oder Unterwäsche drin. Und siehe da: Er begnügt sich damit und traut sich nicht einmal, hineinzuschauen. Wenig später gibt er auf. Genug geübt, mal ein richtiger Zöllner zu sein... Doch der Höhepunkt kommt zum Schluß: Ganz aufgeregt ruft er mich auf die Rückseite des Wagens. Er zeigt mit fragendem Blick auf die seiner Meinung nach wohl überflüssige, verrostete Metallröhre unterhalb der Stoßstange. "Qu'est-ce que c'est?" Einen Moment kapiere ich gar nicht, was er überhaupt meint. Dann dämmert es mir, aber das französische Wort für Auspuff fällt mir natürlich nicht ein. Also Babysprache: "Pour le moteur - pffft, pffft!" Der Zöllner versteht es sogar, wird sichtlich verlegen und wünscht uns "Bonne route!" Erst grinsend, dann laut lachend fahren wir los.
Inzwischen ist es schon fast dunkel. Trotzdem wollen wir noch ein Stück weiterfahren, um morgen vormittag in Tunis zu sein. An einem Stoppschild halten wir nicht an, da alles gut überschaubar und frei ist. Ein paar hundert Meter weiter rächt sich das - Polizeikontrolle. Zuerst glauben wir, es sei nur eine der üblichen Routinekontrollen, doch dann weigert sich der Polizist, mir meinen Führerschein zurückzugeben. Wir hätten das Schild nun mal überfahren, er könnte da auch nicht anders und wir müssen uns den Führerschein morgen wieder abholen. So geht das eine ganze Weile hin und her. Das Gespräch dreht sich um Tunesien, Deutschland, Tennis und alles mögliche - eigentlich ist es ganz witzig. Einen Moment denken wir, er habe es auf "Bakshish", eine kleine finanzielle Zuwendung, abgesehen. Aber wir trauen uns nicht, ihm von uns aus etwas anzubieten. Denn so etwas kann auch nach hinten losgehen und als Bestechung ausgelegt werden. Schließlich hält er uns einen Vortrag über den Sinn von Verkehrsregeln und gibt uns den Schein zurück. Wir seien ja Gäste in seinem Land und ich erinnere ihn außerdem an Stefan Edberg, den er wohl sehr verehrt.

Dienstag, 24.11.92
In Tunis ist die deutsche Botschaft unser erstes Ziel. In dieser Stadt sind die Hinweisschilder zwar eher verwirrend als hilfreich, aber mit einigem Nachfragen finden wir die "Sefara Almanya". Man begrüßt uns sehr freundlich, alle sind sehr hilfsbereit - aber Post mit Pässen hat man nicht für uns. Dabei sind jetzt schon zwei Wochen vergangen, seit der Brief in Deutschland abgeschickt worden ist. Man macht uns auch nicht gerade Hoffnung - die tunesische Post sei doch manchmal äußerst langsam. Außerdem nimmt die Botschaft eigentlich gar keine Privatpost an, jedenfalls nicht ohne vorherige Rücksprache. Da hatte man uns beim Auswärtigen Amt in Bonn etwas ganz anderes erzählt. Aber zum Glück wird es nicht so eng gesehen, und bei offensichtlich wichtigen Dokumenten gehen sie nicht an den Absender zurück. Wir fürchten allerdings, daß die Gültigkeit der libyschen Visa abläuft, wenn sie noch eine Weile in irgendwelchen dunklen Postkanälen herumdümpeln. Aber auch da kann uns die Botschaft beruhigen: Jemand werde dann mit uns zur libyschen Vertretung gehen und das irgendwie regeln. Alles was wir jetzt tun können, ist, jeden Tag nachzufragen und uns eine schöne Zeit in Tunis zu machen.
Da wir uns noch Visa für Ägypten besorgen müssen, machen wir uns am Nachmittag auf die Suche nach der Botschaft. Sie ist umgezogen, allerdings auch unter der neuen Adresse nicht zu finden. Wir fragen mindestens zehn Passanten und Polizisten und erhalten zwölf verschiedene Antworten. Prinzip: Lieber in irgendeine Richtung zeigen, anstatt den Fragenden zu enttäuschen und zuzugeben, daß man die Antwort nicht weiß. Als wir nach fast zwei Stunden aufgeben wollen, finden wir sie doch noch. Natürlich hat sie inzwischen geschlossen. Der Pförtner vertröstet uns auf morgen, drückt uns schon mal zwei Anträge in die Hand und meint, die Ausstellung würde dann 15 Tage dauern. Wir können es nicht fassen: 15 Tage!

Doch am nächsten Morgen klärt sich alles auf. Die Ausstellungsdauer von 15 Tagen gilt nur für Tunesier. Ausländer erhalten das Visum innerhalb von zwei Tagen. Schon morgen können wir es abholen. 
Wir verbringen den Tag mit der Besichtigung der Stadt und dem Antesten der verführerischen Bäckereien und Imbißbuden. Die Nähe Italiens ist an den vielen Pizzerien deutlich zu spüren. Tunis unterscheidet sich gar nicht so sehr von einer europäischen Großstadt. Wir finden sogar einen bewachten Parkplatz und ein billiges nettes Hotel ganz in der Nähe der Altstadt, die wiederum gar nicht so europäisch wirkt. Wenn man darin die Haupt-Souvenir-Gänge verläßt, ist sie sogar ausgesprochen orientalisch.
Tunis hat eine lange Geschichte. Schon in der Zeit vor der arabischen Invasion war sie eine bedeutende Stadt und Sitz eines frühchristlichen Erzbischofs. Doch erst unter den Arabern erlebte Tunis einen richtigen Aufschwung. Es wurde Regierungssitz und eines der bedeutendsten Handelszentren Nordafrikas. 1534 wurde Tunis von den Türken erobert, deren Osmanisches Reich sich zu dieser Zeit bis nach Algerien ausdehnte. Abgesehen von kurzen Unterbrechungen behielten sie die Oberhoheit, bis sie 1881 von den Franzosen verdrängt wurden. Allerdings erhielt Tunesien "nur" den Status eines französische Protektorates, der türkische Sultan blieb noch bis zum endgültigen Aus des Osmanischen Reiches offizielles Staatsoberhaupt. In der nun folgenden Zeit entstand die "Ville Nouvelle", die Neustadt. Sie ist heute das moderne Zentrum von Tunis. Hier befinden sich die großen Prachtstraßen, die meisten großen Läden und zahlreiche Cafés und Hotels.
Seit der Unabhängigkeit 1956 versucht man auch in Tunesien, zur alten arabischen Tradition zurückzukehren. Franzosen, Italiener und Juden mußten das Land verlassen. Allerdings erreichte man dies nicht mit Gewalt, sondern mit Verwaltungserlässen. Schulen und Verwaltungen wurden arabisiert: Wer die arabische Sprache nicht beherrschte, hatte in seinem Beruf keine Chance mehr und wanderte aus. Den Juden wurde es immer schwerer gemacht, ihre Religion und Kultur zu pflegen.
Heute ist Tunesien das am stärksten westlich orientierte arabische Land. Präsident Habib Bourguiba, der von 1956 bis zu seiner Absetzung 1987 regierte, bediente sich eines geschickten Tricks, um den wirtschaftslähmenden Fastenmonat Ramadan zu umgehen: Da jeder, der am "Djihad" teilnimmt, vom Fasten ausgenommen ist, rief er den Djihad gegen die Unterentwicklung aus. Somit ist ein normaler Ablauf des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft im Monat Ramadan zumindest von offizieller Seite gewährleistet. Auch in puncto Emanzipation der Frauen ging Bourguiba einen für ein arabisches Land ungewöhnlichen Weg: Er setzte sich sowohl in seinen Reden, als auch in der Gesetzgebung für eine Gleichstellung der Frauen ein. Er rief den verschleierten Frauen zu: "Enlevez cet odieux chiffon", "Nehmt eure häßlichen Fetzen herunter". Der Frauenanteil an weiterführenden Schulen und an den Universitäten liegt in Tunesien deutlich höher als in anderen arabischen Ländern. Frauen müssen auch vor einem Standesbeamten die Einwilligung zur Heirat geben. Dies erschwert es den Vätern, sie gegen ihren Willen zu verheiraten. Polygamie ist verboten. Bourguiba begründet dies mit dem Argument, daß die vom Qur'an vorgeschriebene vollkommene Gleichbehandlung aller Ehefrauen im Grunde etwas Unmögliches sei. Das Scheidungsrecht wurde zugunsten der Frauen geändert. Seit 1965 ist es Frauen, die fünf oder mehr Kinder haben, erlaubt, eine Schwangerschaftsunterbrechung auch ohne Einwilligung des Ehemannes vornehmen zu lassen. So liberale Gesetze hat sonst kein anderes arabisches Land, sondern die meisten erlauben eine Abtreibung nur im Falle der Gesundheitsgefährdung der Mutter. Der Qur'an betrachtet jedes Lebewesen ab der Zeugung als Schöpfung Allahs (Sure 23, Verse 12-14 und Sure 56, Verse 57-59). Daher unterliegt jeder Mensch nur der Verfügungsgewalt Allahs als dessen Eigentum und Diener (Sure 19, Vers 93 und Sure 10, Vers 68).
Tunis ist nicht nur die Hauptstadt Tunesiens, sondern gibt dem ganzen Land den Namen: Auf arabisch heißt Tunesien einfach nur "Tunis". In der arabischen Welt genießt die Stadt hohes Ansehen und war sogar einige Zeit Sitz der Arabischen Liga. Der Sitz wurde nach Kairo zurückverlegt, als die übrigen arabischen Staaten den ägyptischen Friedensvertrag mit Israel akzeptierten und wieder diplomatische Beziehungen aufnahmen.

Der nächste Tag kommt uns dann wie ein verfrühtes Weihnachten vor, an dem wir ganz besonders nett bedacht werden: Zuerst auf der deutschen Botschaft. Unser Brief ist angekommen und mit den Visa alles klar. Mit einem Augenzwinkern wünscht man uns "Viel Spaß in Libyen!".
Nächste Station ist eine VW-Vertretung. Wir glauben, daß wir ein neues Schloß für die Heckklappe brauchen, da sich das alte seit dem Knack-Versuch von Constantine nicht mehr öffnen läßt. Aber man schickt uns zu einem Schlüsseldienst. Dieser leistet dann ganze Arbeit: Etwas Gewalt, und das Schloß funktioniert wieder einwandfrei. Das Innere des Schließzylinders ist unbeschädigt.
Das dritte "Weihnachtsgeschenk" holen wir uns auf der ägyptischen Botschaft ab: Unsere Pässe mit Visa. Nun steht der Weiterfahrt nichts mehr im Wege!

Freitag, 27.11.92
Wir wollen das für die Jahreszeit ungewöhnlich gute Wetter nutzen, und fahren deshalb ein Stück in Richtung Norden an einen Strand. Normalerweise muß man Ende November mit Regen und Kälte rechnen, aber der Himmel ist unverändert blau. Schon die ganze Tour über ist es unerwartet warm. Zwar kühlt es sich nachts spürbar ab, aber tagsüber pendelt sich die Temperatur zwischen 20 und 25 Grad ein.
Die Ruinen des antiken Karthago lassen wir rechts liegen. Mag die Vergangenheit dieses Ortes, der heute ein Villenvorort von Tunis ist, auch noch so glorreich gewesen sein, die Überreste sind es nicht. Die Römer leisteten im Jahre 146 v. Chr. bei der Zerstörung Karthagos ganze Arbeit, kaum ein Stein blieb auf dem anderen. Danach wurden die Ruinen als Steinbruch mißbraucht, so daß auch aus römischer Zeit nichts besonders Sehenswertes übriggeblieben ist. Nur der punische Hafen zeugt heute noch von der Stadt, die einst Mittelpunkt eines mächtigen Reiches war. Von hier brach Hannibal auf, überquerte mit seinen Kriegselefanten die Alpen und stellte eine ernsthafte Bedrohung Roms dar. Doch am Ende der drei "Punischen Kriege" behielten die Römer die Oberhand und machten Karthago zur römischen Provinz "Africa". Unsere Geschichtsschreibung läßt an den Puniern kaum ein gutes Haar. Das liegt daran, daß fast alle Dokumente dieser Zeit von den Römern stammen. Und die haben nicht gerade Schmeichelhaftes über den Erzfeind verewigt. Erst 2131 Jahre nach der Zerstörung kam es zu einem Friedensvertrag zwischen Rom und Karthago: Er wurde 1985 feierlich von den Bürgermeistern der beiden Städte unterzeichnet.
Ein paar Kilometer hinter Karthago liegt Sidi Bou Said, ein kleines Dorf wie aus dem Bilderbuch. Es ist heute ein richtiges "Vorzeigedorf", weiß-blau getüncht, das in keinem Programm eines Reiseveranstalters fehlen darf. Zwar ist es ein ganz netter Ort, aber für uns ist er schon fast zu perfekt zurechtgemacht. Außerdem sind die Scharen von Touristen in unseren Augen nicht gerade ein Pluspunkt. Luxuriöse Prachtvillen der Reichen prägen den Ort, denn über die Autobahn ist der Arbeitsplatz in der Hauptstadt flott zu erreichen. Noch ein Stück weiter endet die Straße. Hier finden wir endlich ein Stück Strand, das einigermaßen ruhig ist. Ein Wochenendhäuschen reiht sich an das andere - wer sich es leisten kann, flüchtet im Sommer aus dem heißen und stickigen Tunis hierher. Doch jetzt ist niemand da.

Der Großteil des Küstenabschnitts südlich von Tunis ist fest in der Hand des organisierten Tourismus. Sousse, Hammamet, Nabeul und Monastir sind die Zentren. Viele Tunesier sind recht stolz auf diese Orte, in denen nicht islamische, sondern europäische Sitten vorherrschen. Besonders die jüngere Generation lebt gerne auf westliche Art. Für sie sind diese Orte natürlich ein Traum. Man hat sich hier bemüht, nicht dieselben Fehler wie in manchem spanischen Ferienort zu begehen. Wenigstens die Höhe der Hotels hält sich in Grenzen. Uns ist allerdings ein so gehäuft auftretender Tourismus etwas suspekt. Wenn man sieht, wie hier manch eine(r) in kurzen Hosen oder im Minirock durch die Medina läuft, sich stets mokiert, wie primitiv doch alles sei, und voraussetzt, daß ein jeder Deutsch spricht und es deutsches Bier gibt, dann kann man sich doch ernsthaft fragen, was ihn dann überhaupt in dieses Land verschlagen hat. Auf die Bevölkerung hat das natürlich einen nicht zu übersehenden Einfluß. Wir werden wesentlich häufiger mit "Kommen Sie gucken, nichts kaufen, nur schauen" begrüßt als mit "Salam" oder "Bonjour", so wie das in Algerien üblich ist. "Man spricht Deutsch", das Business dankt es.
In der Nähe solch großer Touristenzentren passiert es uns oft genug, daß man uns bei unseren Lebensmitteleinkäufen ziemlich dreist um ein Vielfaches des eigentlich üblichen Preises erleichtern will. Bei Souvenirshops ist dies gängige Praxis, aber gerade bei den alltäglichen Einkäufen sind die negativen Folgen des Massentourismus besonders auffällig. Es ist schon ärgerlich, wenn auf dem Preisschild der Tomaten ein anderer Kilopreis steht, als dann verlangt wird. Oder wenn der Tee auf einmal das Doppelte kosten soll, nur weil der Kellner davon ausgeht, daß kein Tourist die richtigen Preise kennt. Auch für die einheimische Bevölkerung, sofern sie nicht gerade in der Tourismusbranche arbeitet, bringt diese Entwicklung Nachteile. Das allgemeine Preisniveau steigt an, während ihre Einkünfte konstant bleiben.
In Algerien empfanden wir die Auswirkungen des Tourismus weniger gravierend, die Menschen als freundlicher und ehrlicher. Dort halten sich die Besucherzahlen in Grenzen. Aber in Tunesien (und auch in Ägypten oder Marokko) hat der Tourismus inzwischen eine so bedeutende Stellung für die Wirtschaft, daß es kein Zurück mehr gibt. Mit jährlichen Einnahmen von ungefähr einer Milliarde Dollar ist der Fremdenverkehr Tunesiens Hauptdevisenquelle. Pro Jahr besuchen etwa drei Millionen Touristen das Land - und das bei acht Millionen Einwohnern! Also baut man weitere Hotels, spekuliert auf Profit und Wachstum.
In Mahdia gibt es laut Reiseführer noch so gut wie keine Hotelkomplexe. Doch als wir abends auf der Suche nach einem Schlafplatz am Strand entlangfahren, kann davon keine Rede sein. In den letzten zwei Jahren hatte die Baubranche hier Hochkonjunktur. Es sind so viele Hotels neu entstanden, daß wir mehrere Kilometer stadtauswärts fahren müssen, um einen unbebauten Platz am Meer zu finden.
Dummerweise ist es inzwischen dunkel, als wir endlich ein Stück Strand entdecken, das uns als Übernachtungsplatz geeignet scheint. Doch beim Rangieren passiert es dann: Der Boden wird immer sandiger, wir buddeln uns ein und stecken fest. Da hilft alles Schieben und Schaufeln nichts, aus eigener Kraft kommen wir hier nicht raus.
Ein Tunesier fährt auf seinem Mofa auf uns zu. Anscheinend kommt er gerade vom Angeln und hat uns schieben gesehen und fluchen gehört. Er hilft so gut es geht, aber der Boden ist zu tief. Othman, so stellt er sich uns vor, fordert Kirstin auf, mit ihm ins Dorf zu fahren und jemanden mit einem Traktor herbeizuholen. Sie möchte aber nicht mit ihm allein losfahren, also schwinge ich mich auf den Gepäckträger des Mofas.
Es geht kreuz und quer durch das Dorf und überall wird gefragt, ob Muhammad oder Ali oder sonst wer zu Hause ist. Zwischendurch erklärt Othman, daß er so gut wie jeden im Ort kenne, schließlich sei er der Dorfbarbier. Und früher oder später würden wir schon jemanden mit Traktor finden. Othman betont immer wieder, daß es für ihn absolut selbstverständlich sei, daß er uns hilft. Schließlich seien wir doch Brüder, da wir alle von Adam abstammen. Allah oder Gott, das sei egal - er liebe uns alle. Diese Situation, verkrampft auf dem Mofa durch den Ort sausend, ist allerdings nicht die rechte Gelegenheit für eine Diskussion über Religion.
Wir halten vor einem Teehaus. Alle grüßen wie selbstverständlich: "Salam alaikum". Zur Antwort "Alaikum as-Salam" gehört es auch, den Gruß zu verstärken, indem man die rechte Hand zum Herzen führt. Othman erzählt von unserem Mißgeschick am Strand. Jemand fragt, ob Kirstin sich denn nicht fürchte, jetzt so allein am Strand? Nach der verneinenden Antwort ist er ganz erstaunt und meint, deutsche Frauen wären eben doch anders als tunesische. Angeblich ist inzwischen jemand unterwegs, um jemanden zu holen, der jemanden kennt... Es ist etwas konfus, aber die Worte "Tracteur" und "Mafisch mushkila" (kein Problem) klingen nicht schlecht.
Nach zwei Gläsern Tee fahren wir zum Strand zurück und ein Traktor tuckert hinter uns her. Für ihn ist es kein Problem, den Bulli aus dem Sand zu ziehen. Othman erklärt noch einmal, daß seine Hilfe wirklich völlig selbstverständlich sei. Er beruft sich auf den Qur'an, der so etwas doch gebiete und auch zur Toleranz gegenüber Andersgläubigen aufrufe. Schließlich werden auch Moses, Abraham und Jesus als Propheten verehrt. Muhammad sei allerdings der "Prémier Ministre" unter den Propheten. Wir zeigen ihm unsere Folie an der Windschutzscheibe und er freut sich, daß wir die arabische Schrift lesen können. "Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes", auf Othmans Hilfe trifft dies wirklich zu. Wenn doch nur jeder hier den Qur'an so auslegen würde. Doch leider lassen es gerade diejenigen an Toleranz mangeln, die sich in fundamentalistischer Manier lautstark auf ihn berufen.
Die Verabschiedung ist herzlich: Küßchen links, Küßchen rechts, ein herzliches Dankeschön. Wir fahren keinen Meter weiter, sondern schlafen direkt am Weg zum Strand.

Sonntag, 29.11.92
Die Küste entlang geht es weiter in Richtung Süden. Das Land ist eben, einige Hügelchen sind schon die größten Erhebungen. Riesige Olivenplantagen dominieren die Landwirtschaft. Daneben werden hauptsächlich Zitrusfrüchte und Wein angebaut.
Nachmittags rasten wir in einem Olivenhain. Zunächst sind wir noch ganz allein, doch nach einer Weile werden wir umzingelt: Eine Herde Schafe weidet das spärliche Gras um uns herum ab. Eine Kinderschar, die auf sie aufpaßt, läßt nicht lange auf sich warten. Sie lassen sich in einiger Entfernung von uns nieder und beobachten uns neugierig. Aber nach und nach verlagern sie ihren Platz immer weiter zu uns hin. Irgendwann winken sie. Ein Mädchen kommt zu uns und schenkt Kirstin einen Ring. Dankendes Ablehnen funktioniert nicht, und schon ist sie wieder weg. Kurz darauf kommen die Mädchen zurück, diesmal zusammen. Sie zeigen auf Kirstin, murmeln etwas von "Madame" und zeigen in Richtung Schafherde. Kirstin wird aufgefordert mitzukommen. Sie geht mit, und es werden ihr Babyschaf sowie Mama- und Papaschaf stolz vorgeführt. Schade, daß die Mädchen kein Französisch sprechen und sich unser Arabisch schnell erschöpft. Sie haben versucht, so gut es eben geht, Kontakt aufzunehmen. Die Geste mit dem Ring war einfach nur nett gemeint. Die tunesische Gastfreundschaft, an die wir weiter im Norden des Landes schon nicht mehr so recht glauben wollten, zeigt sich wieder von ihrer besten Seite.

Wir verlassen die Küste am nächsten Morgen und fahren ein Stück ins Landesinnere. Die Vegetation wird wieder wüstenähnlicher. Die niederschlagsreichen Bergregionen, die eine intensive landwirtschaftliche Nutzung ermöglichen, liegen nun hinter uns. Noch etwas weiter im Südwesten hat Tunesien sogar ein Stück "Sahara pur" zu bieten, einen Ausläufer des "Grand Erg Oriental".
Unser Ziel ist Matmata, eine Stadt mit 3000 Einwohnern, die man auf Anhieb gar nicht als solche erkennt. Die meisten der "Häuser" im alten Ortskern sind unterirdisch angelegt. Unter einer harten Felsschicht befindet sich relativ weicher Lehmboden. Er macht es möglich, die Wohnungen direkt in den Boden zu graben. Vor der großen Hitze im Sommer - manchmal klettert das Thermometer auf über 50 Grad - ist man so am besten geschützt.
Sogar Hotels gibt es, die in solch einer ehemaligen Wohnanlage untergebracht sind. Also beschließen wir, mal wieder eine Nacht dort zu verbringen. Der Eingang zum Hotel liegt am Hang. Daher geht man auch nicht nach unten, sondern direkt in den Berg hinein. Wir betreten die Empfangshalle, einen Raum, von dem Gänge in alle Richtungen abgehen. Einer davon führt zur Rezeption, andere zu Waschräumen oder zu mehreren Innenhöfen. Die Atmosphäre ist unbeschreiblich: Erst geht man durch dunkle Gänge und Räume und fühlt sich wie in einem Hamsterbau, dann auf einmal steht man mitten in der Sonne in einem mit Bäumen bewachsenen Innenhof. Die Höfe sind nach oben offen, aber es geht ungefähr acht Meter steil hoch. Insgesamt hat unser Hotel fünf solcher Höfe, in denen sich dann jeweils bis zu acht Eingänge zu den Zimmern befinden. In den Räumen sieht man noch deutlich die Meißelspuren, die beim Herausschlagen des Erdreiches in den Wänden zurückgeblieben sind. Betten, Regale usw. sind direkt beim Anlegen der Räume mitentstanden, Möbel sind daher überflüssig. Die Zimmer strahlen mit ihren weißgekalkten Wänden und der gewölbten Decke eher Gemütlichkeit als Kelleratmosphäre aus.
In diesem Stil sind die meisten unterirdischen Wohnanlagen in Matmata erbaut, das Hotel ist nur ein Beispiel dieser ungewöhnlichen Bauweise. Sie bieten gleich der ganzen Großfamilie Platz, wobei jeder Teil der Familie seinen eigenen Innenhof, und somit sein eigenes Reich hat. Einige der Höfe dienen auch als Vorratsräume oder als Ställe. Zwar sind in letzter Zeit auch viele normale Häuser entstanden, aber noch immer wohnt ein großer Teil der Bevölkerung unterirdisch.

Dienstag, 01.12.92
Über eine 60 Kilometer lange Piste, die auf der Michelin-Karte als "besonders schwierig" eingezeichnet ist, erreichen wir Matameur zwar ordentlich durchgeschüttelt, aber doch ohne Probleme. Es ist ein kleiner Ort, der nicht soviel zu bieten hätte, wenn es hier nicht eine ganze Reihe restaurierter "Ghorfas" gäbe. Ghorfa heißt übersetzt lediglich "Raum"; nach einem Hotelzimmer fragt man beispielsweise mit dem Wort "Ghorfa". In Matameur sind dies allerdings halbrunde, tunnelförmige Gewölbe aus Lehm, jeweils etwa zwei Meter breit und hoch, sowie fünf bis zehn Meter lang. Nach dem Prinzip der Bienenwabe wird auf eine Reihe solcher Gewölbe die nächste Etage aufgesetzt, und das teilweise bis zu acht Stockwerke hoch. Mehrere solcher Ghorfakomplexe bildeten einen Ksar, der einem Berberstamm als Speicher-, Markt-, Versammlungs- oder Zufluchtsort bei Überfällen diente. Heute werden sie kaum noch genutzt und verfallen zusehends.
Die Ghorfas von Matameur sind zwar nur drei Etagen hoch, dafür jedoch in einem guten Zustand. Insgesamt vier solcher Ghorfakomplexe sind im Quadrat angeordnet und bilden einen Innenhof. Einige von ihnen sind als einfaches Hotel zurechtgemacht. Der Besitzer bietet uns an, daß wir umsonst im Innenhof der Ghorfas im Auto schlafen können. Bad und Toilette dürfen wir mitbenutzen. Er ist ganz angetan von unserer Reise und meint, er fühle sich mit allen Langzeitreisenden solidarisch. Gruppen von Pauschaltouristen möchte er in seinem Ghorfa-Hotel nicht haben. Beim Tee lernen wir auch den einzigen momentanen Gast kennen. Und dafür, daß wir ihn zum Abendessen aus Bullivorräten einladen, bekommen wir am nächsten Morgen ein Frühstück vom Hotelbesitzer spendiert.

In Medenine, dem nächsten größeren Ort, stand einst der größte Ghorfakomplex Tunesiens mit etwa 6000 dieser Tunnelgewölbe. Heute sind davon nur noch wenige übrig, die als Touristenattraktion zurechtgemacht sind.
An einer Tankstelle lassen wir einen Ölwechsel vornehmen. Wir bekommen live demonstriert, was man hier von Umweltschutz hält: Es wird zwar eine Schüssel unter den Wagen gestellt, aber die Hälfte kleckert trotzdem daneben. Das Öl läuft in die Grube, auf der der Bulli steht. Aber dort unten ist es in guter Gesellschaft, es befinden sich schon einige hundert Liter darin. Vielleicht wird es ja irgendwann mal abgepumpt, aber es sieht eher danach aus, als wolle man es versickern lassen. Passend dazu fliegt der Ölfilter einfach in die Mülltonne. Wir bekommen ein schlechtes Gewissen, angesichts dieser "Entsorgung". Andererseits können wir Altöl und Ölfilter nicht noch Tausende von Kilometern bis nach Deutschland mitschleppen.
Abends suchen wir uns einen ruhigen Platz am Strand und bereiten alles für die Grenze vor: Ordnung schaffen, Papiere zurechtlegen, aber auch die Etiketten von den Konservendosen entfernen, die aussehen, als ob sie Schweinefleisch beinhalten könnten. Wir haben zwar Gerüchte gehört, die libyschen Grenzkontrollen seien abgeschafft worden, aber offiziell bestehen strenge Einfuhrverbote für Alkohol und Schweinefleisch.

Donnerstag, 03.12.92

Im letzten Ort vor der Grenze legen wir wie üblich unser letztes tunesisches Geld in Lebensmitteln an. Danach folgt am Straßenrand ein einzigartiges Schauspiel: Die Straße ist gesäumt von "Scheinewinkern". Sie stehen schon fast 100 Kilometer vor der tunesisch-libyschen Grenze, wedeln mit ihren dicken Geldbündeln in der Luft und bieten Tauschgeschäfte an. Der libysche Schwarzmarkt hat sich also aus dem Lande selbst hinaus verlagert. Kurz vor der Grenzstation werden diese Scheinewinker immer häufiger und die Geldbündel immer dicker. Getauscht wird auf beiden Straßenseiten. Wer von Libyen kommt, kann so seine libyschen Dinare in tunesische umtauschen und umgekehrt.
Die tunesische Grenzkontrolle ist locker, man will allerdings unsere Visa für Libyen sehen. Die sind natürlich in unseren Zweitpässen. Es löst einige Verwunderung aus, als wir dem Zöllner gleich vier Pässe auf einmal entgegenhalten. Zunächst will er wissen, ob wir zu viert seien und die anderen beiden sich vielleicht hinten versteckt hätten. Doch dann drückt er uns die Ausreisestempel in die Pässe und stellt keine weiteren Nachforschungen an.
Gerade als wir mit den Formalitäten fertig sind, fährt ein weiterer deutscher VW-Bus vor. Wir kommen ins Gespräch und beschließen, die libysche Grenze gemeinsam in Angriff zu nehmen.


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